Ein Wurm, zwei Mundformen

Schleichpfade der Evolution zwischen Genen und Umwelt

6. November 2013

Aus einer Larve des Fadenwurms Pristionchus pacificus entwickelt sich entweder ein räuberisches Großmaul oder ein Bakterienschlürfer mit schmalem Mund – je nachdem, in welcher Umwelt der Wurm aufwächst. Forscher am Max Planck Institut für Entwicklungsbiologie um Ralf J. Sommer entdeckten jetzt einen entwicklungsbiologischen Schalter, der über die Mundform entscheidet. Die Architektur dieser Schnittstelle zwischen Genen und Umwelt verweist auf Evolutionsmechanismen jenseits des traditionellen Lehrbuchwissens.

Flexibilität ist Trumpf, wenn es ums Überleben geht. Das gilt auch für den mikroskopisch kleinen Fadenwurm Pristionchus pacificus, den Forscher um Ralf Sommer am Max Planck Institut für Entwicklungsbiologie erforschen. Je nachdem, in welcher Umgebung Pristionchus aufwächst, entwickelt er entweder ein kurzes, breites oder ein langes, dünnes Maul. Die Breitmaul-Variante, mit einem charakteristischen Zahn, ist für Raubzüge geeignet. Die schmalen Mundwerkzeuge dienen dagegen bevorzugt dem Abgrasen bakterieller Nahrung. Welchen der beiden Entwicklungswege eine Pristionchus-Larve einschlägt, entscheiden dabei nicht die Gene, sondern die Umwelt. Wenn die Tiere hungern, oder wenn sich zu viele Würmer in der Kulturschale drängen, beobachten die Forscher vermehrt die Variante mit dem breiten Mund.

Erik Ragsdale, Manuela Müller, Christian Rödelsperger und Ralf Sommer haben jetzt eine entscheidende Schnittstelle zwischen Außenwelt und den Entwicklungsgenen des Wurms entdeckt. Die Tübinger Biologen stießen auf ein Gen, das wie ein Schalter funktioniert und unter den beiden möglichen Mundformen die jeweils Angemessene auswählt.

Die Entdeckung dieses Gens war der entscheidende Erfolg eines genetischen Experiments, für das sich Fadenwürmer wegen ihrer kurzen Generationszeit besonders gut eignen. Ragsdale und Müller stießen dabei auf mutierte Wurmlinien, die ausschließlich Würmer mit schmalen Mündern hervorbringen, und zwar unabhängig von den Umweltbedingungen und in denen das gleiche Gen, eud-1, inaktiviert ist. „Wir konnten zeigen, dass ein Gen, das wir in einem genetischen Experiment unter Laborbedingungen gefunden hatten, ein ökologisch bedeutendes Merkmal steuert“, kommentiert Max-Planck-Direktor Sommer eine Besonderheit der Entdeckung.

eud-1 ist das Gen für eine Sulfatase. Sulfatasen sind Enzyme, die andere Proteine oder Moleküle chemisch verändern. Noch wissen die Tübinger Forscher nicht genau, welche Moleküle die Ziele dieser speziellen Sulfatase sind. Sie vermuten aber, dass eud-1 die Eigenschaften hormoneller Botenstoffe beeinflusst. Das würde zu ihrer Beobachtung passen, dass eud-1 vor allem in Nervenzellen des Wurms aktiv ist – dort also, wo wichtige Botenstoffe produziert werden.

Mit dem Wissen um die eud-1-Mutanten machten Ragsdale und seine Kollegen die Gegenprobe und führten mit gentechnischen Tricks zusätzliche Kopien des eud-1-Gens in  Pristionchus-Würmer ein. Fasziniert beobachteten die Forscher nun den im Vergleich zur Mutante spiegelbildlichen Effekt. Fast alle dieser transgenen Würmer entwickelten nämlich die breite Mundform mit dem charakteristischen Zahn.

eud-1 arbeitet also wie ein Fahrdienstleiter am Hauptbahnhof, der vor Einfahrt eines ICE je nach Verkehrslage festlegt, auf welches Gleis der Zug einfahren darf. Während einer kritischen Phase in der Entwicklung geht es unumkehrbar entweder in Richtung „breiter Mund“ oder „schmaler Mund“.

„Phänotypische Plastizität“ heißt diese Eigenschaft vieler Organismen, ihre Entwicklung flexibel auf sich ändernde Erfordernisse der Umgebung abzustimmen. Wichtig ist die Entdeckung des eud-1-Gens einerseits deshalb, weil die molekular-genetischen Mechanismen, die Tieren diese Plastizität erlauben, bisher zum größten Teil unbekannt sind.

„Phänotypische Plastizität wird häufig ins Spiel gebracht, um evolutionäre Anpassungen  an verschiedene Umweltbedingungen zu erklären. Wir zeigen beispielhaft einen genetischen Mechanismus, der solche evolutionären Verzweigungen ermöglicht“, so Sommer.

Wie genau Umwelt und Gene zusammenwirken, ist ein in mancher Hinsicht kontroverses Thema unter Evolutionsbiologen. Klar ist, dass die Umwelt eine Auswahl zwischen genetisch verschiedenen Varianten trifft – das ist Darwins natürliche Selektion. Aber Forscher wie die amerikanische Biologin Mary-Jane West-Eberhard behaupten: Die Umwelt kann auch direkt auf die Entstehung neuer stammesgeschichtlicher Merkmale einwirken.

Bei einem „plastischen“ Merkmal wie der Mundhöhlenform bestimmen äußere Umstände, ob es in der einen oder der anderen Form vorliegt. West-Eberhard und andere Querdenker vermuten, dass ein durch die Umwelt derart voreingestelltes Merkmal in einem zweiten Schritt genetisch dauerhaft fixiert werden kann. Es könnte auf diese Weise sogar zu Artaufspaltungen kommen. Das ist allerdings wenig mehr als eine umstrittene Idee, die bisher kaum durch experimentelle Belege gestützt werden konnte.

Die Tübinger Max-Planck-Forscher haben mit dem Schalter-Gen eud-1 nun einen genetischen Mechanismus identifiziert, der gut zu diesen Hypothesen passt. Komplexe Evolutionsmodelle mit Plastizität und Umwelteinflüssen als treibenden Kräften sind also vielleicht mehr als kontroverse Gedankenspiele.

NW/HR

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