Europas Finanzkrise ist auch eine soziale Krise

EU-Kommissar László Andor zu Gast am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik

22. April 2013

Eurokrise, Finanz- oder auch Schuldenkrise: Die Vielzahl der Worte für die gegenwärtige Lage in der Europäischen Union ist groß. Übersehen wird dabei bisweilen, dass daraus auch große soziale Probleme erwachsen. Wie sie sich auswirken und welche Wege es aus der Krise geben könnte, darüber diskutierte der EU-Kommissar László Andor mit Direktoren und Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik.

Über 120 Millionen EU-Bürger sind gegenwärtig von Armut oder sozialer Exklusion bedroht – mehr als je zuvor. Wie diese Schäden am Europäischen Haus in Grenzen zu halten seien – darüber tauschte sich László Andor bei seinem Aufenthalt im Münchner Max-Planck-Institut mit den Direktoren Axel Börsch-Supan und Ulrich Becker aus. Ein Anliegen seines Besuchs war es auch, sich über die Forschung am Institut zu informieren. Das Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik widmet sich sozialpolitischen Fragestellungen aus juristischer und ökonomischer Sicht. Im Mittelpunkt stehen dabei Systeme zur Absicherung sozialer Risiken wie Krankheit, Alter, Pflegebedürftigkeit, Invalidität, Arbeitslosigkeit und Unfall sowie Systeme der sozialen Förderung und sozialen Hilfe – nicht nur in den Staaten Europas – sowie die Internationalisierung und Reformen des Sozialrechts. Ferner werden Fragestellungen, die mit dem demographischen Wandel und der Alterung der Bevölkerung zusammenhängen, erforscht: ein reiches Informationsfeld für den ungarischen EU-Kommissar.

Nach der Vorstellung der wissenschaftlichen Arbeit des Instituts sprach EU-Kommissar Andor in seinem Vortrag „The Employment and Social Situation – Europe's Social Crisis: Is there a Way Out?“ über die negative Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die immer mehr Menschen in Europa bedrohe. Er zeigte anhand aktueller Daten, wie sich die Kluft zwischen dem Norden und dem Süden Europas verbreitert. Liegt die Arbeitslosigkeit im Norden gegenwärtig bei circa sieben Prozent, so sind in den Krisenstaaten 18 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Arbeit.

Staatliche Sozialleistungen könnten die finanziellen Schockwellen der Krise zwar abfedern, indem sie die Einkommensverluste der Haushalte kompensierten und Arbeitslose wieder zurück in Jobs brächten. Aber anders als in vergangenen Krisenzeiten hätten die betroffenen Mitgliedsstaaten infolge des enormen Spardrucks die Steuern zu rasch erhöht und gleichzeitig die öffentlichen Ausgaben massiv gekürzt, vor allem auch im Sozialbereich. Diese Politik, so EU-Kommissar Andor, habe dazu geführt, dass die Sozialleistungen ihre stabilisierende Funktion für die Gesamtwirtschaft kaum noch entfalten könnten.

Für den EU-Kommissar bedroht die aktuelle Krise den sozialen Zusammenhalt in Europa. Eine Lösung könne letztlich nur durch ein Ende der Euro-Krise erreicht werden. Dazu bedürfe es aber einer intelligenten Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten, die in erster Linie auf soziale Investitionen setze. Andor zeigte, wie die EU-Kommission mit sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, zum Beispiel den EU-Beschäftigungspaketen, versuche, einen Beitrag dazu zu leisten.

Der EU-Kommissar betonte, dass die Zukunft Europas auf dem Spiel stehe, wenn der gemeinsame Wohlstand gefährdet sei. Um die nötige sozial-ökonomische Angleichung zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu erreichen, bedürfe es aus seiner Sicht einer systemischen gesamteuropäischen Lösung, die über die Hilfe für einzelne Krisenstaaten hinausgehe. In der abschließenden Diskussion waren Andor und die Zuhörer einig, dass eine Beruhigung der Märkte nicht der alleinige Weg aus der Staatschuldenkrise sein könne. Das europäische Haus brauche nicht nur etwas frische Farbe, sondern die strukturellen Schäden an der Substanz müssten konsequent in den Blick genommen werden.

MS

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