Tunneln nahe der Lichtgeschwindigkeit

Eine relativistische Betrachtung des quantenmechanischen Tunnelprozesses gibt Hinweise, wie lange sich ein Elektron in einer Potenzialbarriere aufhält

15. April 2013
Für den Weg durch einen quantenmechanischen Tunnel brauchen Teilchen offenbar länger, als viele Physiker bislang annahmen. Anders als ein Fußball, der von einer Mauer mit 100prozentiger Wahrscheinlichkeit abprallt, hat ein Quantenteilchen eine kleine Chance, eine Barriere zu durchdringen, obwohl seine Energie dafür eigentlich nicht ausreicht. Forscher des Max-Planck-Instituts für Kernphysik in Heidelberg belegen jetzt, dass es eine sehr kurze, aber messbare Zeit braucht, um das Hindernis zu durchdringen. Das ist ein Ergebnis ihrer theoretischen Studie eines Elektrons, das von seinem Atomkern und einem intensiven Laser bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wird und aus dem Atom heraus tunnelt. Bisher war unklar, ob die Vorstellung, die sich Physiker vom Tunnelprozess machen, unter diesen relativistischen Bedingungen noch haltbar ist. Aus der Untersuchung ergibt sich auch, wie sich die Dauer des Tunnelprozesses, die sogenannte Eisenbud-Wigner-Smith-Zeit, messen lässt. Ob ein Teilchen überhaupt Zeit in der Barriere verbringt oder ob es augenblicklich am Ende der Tunnelstrecke auftaucht, war unter Quantenphysikern bis dato umstritten.

An verbotenen Orten sollte man sich nicht aufhalten. Doch wie die meisten Kinder besonders gerne verbotenes Terrain erkunden, missachten offenbar auch Elektronen, dass sie sich in einem Potenzialwall nicht aufhalten dürfen. Einen solchen Potenzialwall baut ein positiv geladener Atomkern mit seiner Anziehungskraft auf, die die negativ geladenen Elektronen beim Atom einpfercht. Um zu entwischen, müssen die Elektronen durch die Potenzialbarriere tunneln, wenn ihre Energie nicht ausreicht, damit sie über den Wall katapultiert werden. Die Forscher des Max-Planck-Instituts für Kernphysik haben nun berechnet, dass das Elektron tatsächlich eine kurze Weile in der Barriere verbringt. Manche Physiker vermuteten bisher, der Tunnelprozess fände instantan statt, das Elektron verbringe also keine Zeit in der Barriere.

„Unsere Rechnungen erklären außerdem, warum bisherige Messungen im Rahmen der Messgenauigkeiten verschwindende Tunnelzeiten ergaben“, sagt Christoph H. Keitel, Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik und Leiter der Studie. Bislang haben Forscher gewissermaßen an den falschen Stellen mit der Stoppuhr auf das Elektron gewartet. „Unsere Studie gibt aber Hinweise, wie sich die Eisenbud-Wigner-Smith-Zeit, die das Elektron in der Tunnelbarriere verbringt, messen lässt“, so Keitel.

Intensive Laser machen eine relativistische Betrachtung des Tunnelns nötig

Wo und wie Messungen aussagekräftiger werden, leiten die Forscher aus einer theoretischen Betrachtung des Tunnelprozesses ab, in der sie erstmals relativistische Effekte berücksichtigten. Diese treten auf, wenn der Atomkern und die elektromagnetische Kraft eines intensiven Lasers das tunnelnde Elektron fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Das ist für viele Experimente in der Quantenphysik relevant, in der Forscher die Materie besser verstehen lernen wollen. „Dabei werden heute immer intensivere Lasern eingesetzt, sodass man relativistische Effekte bei der Interpretation der Ergebnisse nicht mehr vernachlässigen darf“, sagt Christoph Keitel. Das gilt unter anderem, wenn etwa ein sehr intensiver Infrarot-Laser ein Elektron dazu bringt, aus dem Atom herauszutunneln.

Dabei ist zum einen die hohe Intensität des Lasers wichtig. Denn nur bei einer hohen Intensität, reicht die Kraft des Laserfeldes, damit das Elektron sehr stark beschleunigt wird und aus dem Atom tunneln kann. Zum anderen muss die Frequenz der elektromagnetischen Welle vergleichsweise niedrig sein, so wie es in infraroter Strahlung der Fall ist. Die Frequenz gibt nämlich an, wie schnell das elektromagnetische Feld schwingt. Ist sie zu hoch, wechselt die Kraft des Laserfeldes zu schnell die Richtung: Sie schleudert das Elektron dann zum Atom zurück, ehe es die Barriere, die es im Atom festhalten will, durchtunnelt hat.

„Wir haben bewiesen, dass das Bild des Tunnelns auch für Elektronen, die fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden, noch zutrifft“, sagt Michael Klaiber, der am Heidelberger Max-Planck-Institut einen Großteil der Rechnungen vorgenommen hat. Selbstverständlich ist das nicht, weil die Vorstellung eines Elektrons, das durch eine Potenzial-Barriere tunnelt, nur die elektrische Komponente des elektromagnetischen Laserfeldes berücksichtigt. Relativistische Elektronen nehmen dagegen auch die magnetische Komponente des Lichts wahr, die senkrecht zum elektrischen Feld steht. Damit folgen die Elektronen während des Tunnelns sowohl den Gesetzen der Quantenmechanik als auch denen der Relativitätstheorie.

Das Magnetfeld verschiebt den Tunnelausgang

„Das magnetische Feld des Lasers übt dann auf das Elektron die Lorentzkraft aus, die das Elektron auf seinem Weg durch die Barriere leicht verschiebt und auch seinen Impuls verändert“, erklärt Michael Klaiber. Das Elektron verlässt die Barriere daher an einer etwas anderen Stelle, als ohne das Magnetfeld zu erwarten wäre. „Wie weit das Elektron in der Barriere abgelenkt wird, hängt dann von der Stärke des Magnetfeldes und der Dauer des Tunnelprozesses ab“, so Michael Klaiber.

Da die Stärke des Magnetfeldes von der Intensität des Lasers vorgegeben ist, können die Heidelberger Forscher aus der Verschiebung berechnen, wie schnell das Elektron durch den Tunnel saust. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass das Elektron theoretisch mit bis zu 70 Prozent der Lichtgeschwindigkeit durch die verbotene Zone fliegt, während es außerhalb der Barriere nur mit einigen Prozent der Lichtgeschwindigkeit startet. Dieses Resultat praktisch, also mit einem Experiment, zu überprüfen, ist jedoch knifflig. Bei den meisten Tunnelversuchen, nähert sich der Weg des Elektrons hinter der Barriere wieder der Bahn an, die es genommen hätte, wenn es das Magnetfeld während des Tunnelns gar nicht gespürt hätte.

Um die Verschiebung des Tunnelausgangs und somit die Tunnelzeit zu messen, müsste man Ort und Impuls des Elektrons also direkt an der Barriere messen. Das ist praktisch nicht möglich. Mindestens ein paar Zentimeter Abstand braucht ein Detektor zum Atom. Doch die Heidelberger Forscher warten mit einer Lösung für dieses Problem auf. Ihren Rechnungen zufolge verwischt der Effekt, den das Magnetfeld auf das tunnelnde Elektron ausübt, nämlich nur, wenn es durch eine lineare, also gleichmäßig steile Barriere tunnelt.

Ein Tunnel am Scheitel des Potenzialwalls hinterlässt bleibende Spuren

Bislang wurden zwar die meisten Experimente so gemacht, dass ein Elektron tatsächlich durch eine lineare Barriere tunnelt, weil sich der Effekt dann relativ einfach beobachten lässt. Das muss aber nicht so bleiben. Denn der Potenzialwall um einen Atomkern ist in etwa so geformt wie ein Erdwall: Seine Flanken sind gleichmäßig steil, während seine Kuppe sich bis zum Scheitelpunkt auf beiden Seiten allmählich abflacht.

„Statt wie bisher den Tunnelprozess am Fuß des Walls zu beobachten, sollte man ihn nah an der Kuppe messen“, sagt Michael Klaiber. Das ließe sich machen, wenn Experimentatoren einem Elektron mit Laserlicht geeigneter Farbe einen Energieschubs verpassen, der es bis knapp unter den Scheitelpunkt der Barriere befördert. Dann ist es jedoch diffizil, die Elektronen, die so nah an der Kuppe durch den Potenzialwall tunneln, von denjenigen zu unterscheiden, die einfach über die Barriere fliegen. Um den Anteil der tunnelnden Elektronen zu erhöhen, müssen Experimentatoren mit sehr kurzen Pulsen arbeiten, was die Versuche aufwendiger macht. Jedenfalls könnten sie dann den Weg eines Elektrons von ihren Detektoren aus bis zum Tunnelausgang zurückverfolgen. Aus der Verschiebung des Ausgangs ließe sich berechnen, wie lange sich das Teilchen dank der Quantenmechanik dort aufhalten konnte, wo es nach dem Bild der klassischen, nicht quantenmechanischen Physik gar nicht sein darf.

PH

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