Forschungsbericht 2012 - Max-Planck-Institut für Physik

Elektroschwache Symmetriebrechung und die Suche nach dem Higgs-Boson

Autoren
Hollik, Wolfgang; Kortner, Sandra (für die ATLAS-Gruppe am Max-Planck-Institut für Physik)
Abteilungen
„Phänomenologie der Hochenergiephysik“ (Wolfgang Hollik)
„Experimentelle Hochenergiephysik I“ (Sandra Kortner)
Zusammenfassung
Die grundlegenden Strukturen der Materie und Kräfte, wie wir sie heute kennen, werden durch das Standardmodell der Teilchenphysik erfolgreich beschrieben. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Higgs-Boson, das für die Massen der fundamentalen Teilchen verantwortlich ist. Bei der Suche nach diesem letzten Baustein des Standardmodells wurde der Durchbruch im Juli 2012 mit der Entdeckung eines neuen fundamentalen, etwa 125 GeV schweren Teilchens mit den Experimenten ATLAS und CMS am Large Hadron Collider (LHC) am CERN erreicht.

Experimentelle und theoretische Untersuchungen zu Fragestellungen hinsichtlich der fundamentalen Wechelwirkungen der Elementarteilchen sind ein Schwerpunkt aktueller Forschung am Institut. Die theoretische Abteilung des Max-Planck-Instituts für Physik befasst sich mit der Phänomenologie von Modellen und deren Vorhersagen; in der experimentellen Abteilung desselben Instituts werden im Rahmen des ATLAS-Experiments am Large Hadron Collider (LHC) des Forschungszentrums CERN in Genf die theoretischen Vorhersagen mit genauen experimentellen Analysen konfrontiert. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Suche nach dem Higgs-Boson, einem wesentlichen Bestandteil des Standardmodells, die im Sommer 2012 durch die Entdeckung eines neuen Teilchens mit Higgs-Boson-ähnlichen Eigenschaften einen Meilenstein in dieser Richtung verzeichnen darf.

Die grundlegenden Strukturen der Materie und Kräfte, wie wir sie heute kennen, werden – mit Ausnahme der Gravitation – durch das Standardmodell der Teilchenphysik erfolgreich beschrieben. Dieses enthält als wesentliche Komponenten:

  • drei Generationen von fundamentalen Bausteinen der Materie, Leptonen und Quarks;
  • drei verschiedene fundamentale Kräfte: die starke, die elektromagnetische und die schwache Kraft;
  • den Higgs-Mechanismus, durch den die fundamentalen Teilchen ihre Massen erhalten.

Die ersten beiden Bereiche sind durch Präzisionsexperimente sehr gut bestätigt; der Higgs-Mechanismus dagegen ist bisher streng genommen immer noch eine Hypothese, die sich durch die erwähnte Entdeckung nach weiteren Untersuchungen als wahr herausstellen könnte. Der experimentelle Nachweis, ob dieser Mechanismus tatsächlich so wirkt, wie er im Standardmodell formuliert wird, ist eine grundlegende Herausforderung an die Teilchenphysik und erfordert ein enges Zusammenspiel von Experiment und Theorie.

Standardmodell und Higgs-Mechanismus

Die drei im Standardmodell zusammengefassten Wechselwirkungen sind einander in ihrer Struktur weitgehend ähnlich. Die entsprechenden Feldtheorien zu ihrer Beschreibung beruhen auf dem universellen Prinzip der lokalen Eichinvarianz, einer Symmetrie unter einer Gruppe von Eichtransformationen an jedem Raum-Zeit-Punkt. Diese Eichtheorien können als Quantenfeldtheorien für die mikroskopische Beschreibung der Kräfte formuliert werden; sie sind damit auch bei kleinen Abständen und hohen Energien gültig. In der Quantenfeldtheorie werden den einzelnen Kraftfeldern Teilchen zugeordnet, die den Spin 1 (in Einheiten des elementaren Drehimpulses) tragen. Der Austausch dieser Kraftteilchen, auch Eichbosonen genannt, zwischen den Materieteilchen bewirkt die entsprechenden Wechselwirkungen. Die bereits lange bekannten Austauschteilchen der elektromagnetischen Wechselwirkung, die Photonen, werden im Standardmodell durch die Austauschteilchen für die schwache Wechselwirkung, die W- und Z-Bosonen, und für die starke Wechselwirkung, die Gluonen, ergänzt. Die zugehörigen Quantenfeldtheorien bilden die Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung, die die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung vereint, und die Quantenchromodynamik als die Theorie der starken Wechselwirkung.

In seiner ursprünglichen Form verlangt das Prinzip der Eichinvarianz, dass die entsprechenden Eichbosonen masselos sind. Während dies auf Photonen und Gluonen zutrifft, gehören die W- und Z-Bosonen mit ihren Massen von 80 GeV und 91 GeV zu den schwersten bekannten Elementarteilchen. Die zur elektroschwachen Wechselwirkung gehörige Eichsymmetrie muss demnach gebrochen sein. Diese Symmetriebrechung muss allerdings auf eine Art erfolgen, dass die Theorie physikalisch und mathematisch konsistent ist und so ihre Vorhersagekraft erhalten bleibt. Ermöglicht wird dies durch eine „spontane Brechung“, welche die Symmetrie in der Wechselwirkung erhält und sie nur in den Teilchenzuständen durch die Teilchenmassen verletzt. Die Entstehung der verschiedenartigen Teilchenmassen (das gilt auch für die Massen von Leptonen und Quarks) ist somit ein Effekt der Symmetriebrechung in der schwachen Wechselwirkung. Der Weg zum Verständnis dieser Symmetriebrechung ist daher gleichzeitig der Weg zu einer Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Ursprung der Masse.

Im Standardmodell ist die spontane Symmetriebrechung über den Higgs-Mechanismus realisiert. Dieser Mechanismus erfordert, dass das System von Materieteilchen und Kraftfeldern um ein weiteres fundamentales Feld ergänzt wird, das Higgs-Feld, dessen Feldstärke im Grundzustand überall von Null verschieden ist. Massive Kraft- und Materieteilchen haben eine Wechselwirkung mit diesem Higgs-Feld, das über seine Grundzustands-Feldstärke die Massen der Teilchen erzeugt; masselose Teilchen haben keine solche Wechselwirkung und ignorieren das Higgs-Feld. Nach den Gesetzen der Quantentheorie gehört zum Higgs-Feld ein bestimmtes Teilchen mit Spin 0 und elektrischer Ladung 0, das Higgs-Boson. Alle Eigenschaften des Higgs-Teilchens sind im Standardmodell festgelegt, mit Ausnahme seiner eigenen Masse. Damit sind die möglichen Erzeugungsmechanismen wie auch die Zerfallseigenschaften dieses Teilchens bekannt, sobald seine Masse bestimmt ist. Die Suche nach dem Higgs-Boson und die genaue Bestimmung seiner Masse sind daher von grundlegender Relevanz für die Experimente am LHC.

Indirekte Suche durch Quanteneffekte

Die erfolglose Suche nach dem Higgs-Boson in den Experimenten am Elektron-Positron-Speicherring LEP am CERN in den 1990er Jahren hat eine Untergrenze von 114 GeV für dessen Masse geliefert. Darüber hinaus lassen sich indirekte Massengrenzen angeben, wenn man von der Higgs-Masse abhängige Quanteneffekte in den theoretischen Vorhersagen für sehr genau messbare Größen mit den Messwerten vergleicht. In einer Quantentheorie können nämlich bei sehr kleinen Abständen aufgrund der Heisenbergschen Unschärferelation auch sehr schwere Teilchen in sehr kurzlebigen Zwischenzuständen existieren (virtuelle Teilchen), ohne dass Impuls- und Energieerhaltungssatz verletzt sind. Über solche typischen Quantenfluktuationen lassen sich auch die Auswirkungen von Teilchen nachweisen, die zu schwer sind, um direkt an einem Beschleuniger erzeugt werden zu können, die jedoch als virtuelle Teilchen die Werte von genau messbaren Größen beeinflussen.

Die Berechnung von Quanteneffekten in Hochenergie-Reaktionen, wie zur Suche nach dem Higgs-Boson und zur Erforschung seiner Eigenschaften, ist eines der in der Theorieabteilung bearbeiteten Themen. Die praktische Durchführung derartiger Rechnungen erfordert eine ständige Weiterentwicklung von Methoden der störungstheoretischen Quantenfeldtheorie, darüber hinaus auch den intensiven Einsatz von Computeralgebra und Automatisierungstechniken.

Als Beispiel ist in Abbildung 1 die berechnete Masse des W-Bosons gezeigt, die durch Quantenfluktuationen von der Higgs-Boson-Masse abhängt. Der Vergleich mit der direkt gemessenen W-Masse führt zu einer starken Einschränkung an die Higgs-Masse. Eine entsprechende Analyse der Quanteneffekte in einer Vielzahl von Präzisionsmessgrößen bei LEP und Tevatron liefert über einen globalen Fit mit der Higgs-Masse als freien Parameter eine Obergrenze für die Masse des Higgs-Bosons von 152 GeV, mit einem statistischen Konfidenzniveau von 95%. Bei Gültigkeit des Standardmodells sollte sich das Higgs-Boson bei der direkten Suche in diesem eingeschränkten Massenbereich nachweisen lassen.

Direkte Suche am LHC

Der Durchbruch in der direkten Suche nach dem Higgs-Boson wurde im Juli 2012 mit der Enteckung eines neuen fundamentalen, etwa 125 GeV schweren Teilchens mit den ATLAS- und CMS-Experimenten am Large Hadron Collider (LHC) erreicht [1]. Die Ergebnisse basieren auf der Analyse der Proton-Proton-Kollisionsdaten, die im Laufe der Jahre 2011 und 2012 bei den Schwerpunktsenergien von 7 TeV bzw. 8 TeV aufgenommen wurden und einer integrierten Luminosität von etwa 11 fb−1 pro Experiment entsprechen. Anhand weiteren 15 fb−1 an Daten pro Experiment, die seitdem bei einer Schwerpunktsenergie von 8 TeV verfügbar wurden, kann man nun die Entdeckung bestätigen und zusätzliche Erkentnisse über die Eigenschaften des neu entdeckten Teilchens gewinnen. Die letzteren sind entscheidend, um schließlich zu überprüfen, inwieweit es sich hier um das vom Higgs-Mechanismus des Standardmodells vorhergesagte Higgs-Boson handelt. Die experimetelle Abteilung des Instituts ist seit Jahren im Rahmen des internationalen ATLAS-Forscherteams an der Detektorentwicklung, dem Detektorbau, -betrieb sowie an der Datenanalyse beteiligt und spielt eine führende Rolle bei der Erforschung des Higgs-Mechanismus.

Im Gegensatz zu den bisherigen direkten Suchen nach dem Higgs-Boson ist es mit dem LHC zum ersten Mal möglich, den gesamten erlaubten Higgs-Massenbereich von 110 GeV bis zu etwa 600 GeV zu erkunden. Die Suche basiert auf der Analyse der Kollisionsendzustände im Detektor, die verschiedenen Higgs-Boson-Zerfällen entsprechen. Die Herausforderung an Detektortechnologie und Datenanalyse ist die Identifizierung der Higgs-Boson-Ereignisse in einem um viele Größenordnungen höheren Untergrund bekannter Prozesse mit ähnlicher Signatur, wie z. B. der Diphoton-, W-, Z-, oder Top-Quark-Produktion. In dem durch die indirekte Suche bevorzugtem Massenbereich bis 160 GeV liefern drei Zerfallskanäle die größte Sensitivität auf das Higgs-Boson-Signal. Der Zerfall in zwei Photonen, H→γγ, sowie der Zerfall in zwei Z-Bosonen, die jeweils in zwei geladene Leptonen zerfallen, H→ZZ→l+l-l+l-, (Abb. 2(a)) zeichnen sich durch eine klare Signatur im Detektor aus und ermöglichen eine präzise Messung der invarianten Masse aller Zerfallsprodukte. Im Vergleich dazu bietet der Zerfall in zwei W-Bosonen, die jeweils in ein geladenes Lepton und ein Neutrino zerfallen, H→W+W-→l+νlν, zwar eine schlechte Massenauflösung, dafür aber die höchste Zerfallsrate. Deutlich geringere Signalsensitivität liefern wegen des hohen Untergrundbeitrags die Zerfallskanäle mit zwei Tau-Leptonen oder bb-Quarkpaaren im Endzustand. In den ersten drei erwähnten Endzuständen wurde im ATLAS-Experiment im Juli 2012 bei einer invarianten Masse von 126 GeV ein Überschuss an Ereignissen über den erwarteten Untergrundbeitrag beobachtet (Abbildung 2b).

Die Kombination aller Zerfallskanäle setzt eine obere Grenze an den Wirkungsquerschnitt für die Higgs-Boson-Produktion in Abhängigkeit von der Masse des Higgs-Bosons. Relativ zur Erwartung des Standardmodells ist die Existenz des Higgs-Bosons mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% im gesamten Massenbereich zwischen 111 GeV und 122 GeV sowie zwischen 131 GeV und 600 GeV ausgeschlossen. Im restlichen Massenbereich zwischen 122 GeV und 131 GeV kann die Existenz des Higgs-Bosons wegen des beobachteten Überschusses an Ereignissen relativ zum erwarteten Untergrundbeitrag nicht ausgeschlossen werden. Abbildung 3 zeigt als Funktion der angenommenen Higgs-Boson-Masse, mit welcher Wahrscheinlichkeit p0 eine statistiche Fluktuation des Untergrundbeitrags in den Daten von Juli 2012 einen solchen oder größeren Überschuss an Ereignissen verursachen würde. Um die Masse von 126 GeV ist die Wahrscheinlichkeit p0 äußerst gering (10-9) und entspricht der Entdeckung eines neuen Teilchens mit einer Signalsignifikanz von sechs Standardabweichungen (6σ).

Während die aktualisierten Ergebnisse, die auf dem bisher aufgezeichneten vollständigen Datensatz von 26 fb−1 basieren, im Laufe des Jahres 2013 erwartet werden, kann man schon heute mit einem teilweise erweiterten Datensatz von 18 fb−1 zusätzliche Erkentnisse über das beobachtete Signal gewinnen. Wie erwartet, steigt die Signalsignifikanz mit den zusätzlichen Daten auf 7σ, was die beobachtete Entdeckung verstätigt. Die Masse des neuen Teilchens kann in den γγ- und 4l-Endzuständen mit einer Genauigkeit von besser as 1 GeV bestimmt werden. Die Kombination der ATLAS-Messungen in beiden Endzuständen ergibt eine Teilchenmasse von 125,2 ± 0,7 GeV.

Basierend auf dem gemessenen Massenwert können weitere Eigenschaften des beobachteten Teilchens (Signalstärke, Kopplungen an Fermionen und Eichbosonen, Spin und Parität) mit den theoretischen Vorhersagen des Standardmodells für das Higgs-Boson dieser Masse verglichen werden. Jede Abweichung von den vorhergesagten Werten könnte dabei auf einen etwas komplexeren Higgs-Mechanismus oder auf Physik jenseits des Standardmodells hindeuten.

In der Kombination aller Zerfallskanäle beträgt die Signalstärke relativ zur Standardmodel-Vorhersage 1,35 ± 0,24 und ist damit im Rahmen der Messfehler im Einklang mit den Erwartungen für das Standardmodell-Higgs-Boson. Die Messwerte in jedem einzelnen Zerfallskanal (Abb. 4) liefern ähnliche Übereinstimmung mit der Theorie. Die stärkste Abweichung von der Theorie (2σ) findet man im γγ-Endzustand mit der Signalstärke von 1,8 ± 0,4. Weitere Daten werden zeigen, ob es sich hier um eine statistische Fluktuation oder ein reales physikalisches Phänomen handelt.

Das Higgs-Boson des Standardmodells ist ein Spin-0-Teilchen mit gerader Parität. Der Zerfallskanal mit vier Leptonen liefert die Informationen über die Parität des neu entdeckten Teilchens. Falls das Teilchen einen Spin 0 besitzen sollte, ist die ungerade Parität laut Messungen mit 99% Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Die ersten Informationen über den Spin konnte man aus der räumlichen Verteilung der Zerfallsprodukte in den γγ und 4l-Endzuständen gewinnen. Spin 1 ist durch den Zerfall in zwei Photonen ausgeschlossen. Während die gemessenen Daten tatsächlich die Spin-0-Hypothese (d. h. die Standardmodell-Vorhersage) bevorzugen, konnte die Spin-2-Hypothese noch nicht eindeutig ausgeschlossen werden. Eine bessere Unterscheidung von zwei Hypothesen wird nach der Auswertung zusätzlicher Daten erwartet.

Die Stärke der Kopplungen des neuen Teilchens an die Fermionen und Eichbosonen kann bisher unter vielen Annahmen und nur mit einer relativ geringen Genauigkeit bestimmt werden. Bisherige Messungen stimmen mit den Erwartungen für das Standardmodell-Higgs-Boson überein, wobei die relativen Messfehler bis zu 50% betragen. Eine bessere Messgenauigkeit wird mit der Auswertung weiterer Daten erwartet. Dabei ist die Beobachtung des Signals in fermionischen ττ- und bb-Zerfallskanälen von großer Bedeutung. Alle bisherigen Messungen der Eigenschaften des neu entdeckten Teilchens konnten keine bedeutenden Abweichungen von den Vorhersagen für ein Standardmodell-Higgs-Boson vorweisen. Jedoch sind durch diese Messungen viele der theoretischen Vorhersagen wegen der eingeschränkten Messgenauigkeit noch nicht erfasst worden. Die Frage nach der wahren Natur dieses Teilchens verlangt nach einem deutlich größeren Datensatz und wird uns daher noch lange beschäftigen. Seit Frühjahr 2013 befidet sich der LHC in einer Betriebspause, in der der Beschleuniger für den Betrieb bei höheren Schwerpunktsenergien bis zu 14 TeV aufgerüstet wird. Von 2015 bis Ende 2018 sollten 10 Mal mehr Daten aufgenommen werden als bisher. Das Abenteuer Higgs-Boson geht weiter.

Literaturhinweise

ATLAS Collaboration: Aad, G. et al.
Observation of a new particle in the search for the Standard Model Higgs boson with the ATLAS detector at the LHC
Physics Letters B 716, 1-29 (2012)
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