Forschungsbericht 2012 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Erst denken, dann reden? Zur zeitlichen Koordination von Sprechen und Denken

Autoren

Konopka, Agnieszka; van de Velde, Maartje; Meyer, Antje

Abteilungen

Psychologie der Sprache

Zusammenfassung
In alltäglichen Unterhaltungen beginnen wir oft schon zu sprechen, bevor wir genau festgelegt haben, was wir sagen und wie wir es formulieren wollen. Damit ergibt sich die Frage, wie Denken und Sprechen in der Zeit koordiniert werden. Wie weit denken Sprecher voraus? Die MPI-Forscher beschreiben, wie dies durch die Analyse von Augenbewegungen untersucht werden kann. Ihre Experimente zeigen, wie der Zeitverlauf der gedanklichen Vorbereitung von Inhalt und Form der Äußerung abhängt. Damit eröffnen sie neue Perspektiven zum Zusammenhang von Denken und Sprache.

"Erst denken, dann reden!"

Diesen wohlgemeinten Rat hört man typischerweise, nachdem man bereits in ein Fettnäpfchen getreten ist oder ein sorgfältig gehütetes Geheimnis ausgeplaudert hat. Dies ist nicht verwunderlich: Wir wissen nämlich schon seit langem, dass sich Sprecher nur selten vorab genau überlegen, was sie sagen wollen. Stattdessen planen sie meistens nur den Anfang einer Äußerung, beginnen zu sprechen und planen weiter, während sie den Satzanfang aussprechen [1]. Dies funktioniert, weil die Sprechplanung, also die Auswahl der richtigen Wörter und ihre Anordnung im Satz, schneller ausgeführt wird als die Aussprache selbst. So braucht ein Sprecher zum Beispiel mindestens 1,5 Sekunden, um die Worte "Das kleine Mädchen ..." auszusprechen. Das gibt dem Sprecher genügend Zeit, den nächsten Teil des Satzes, etwa "... schiebt den Jungen", zu planen. Wenn die Planungszeit während der Aussprache eines Satzteils einmal nicht ausreicht, macht der Sprecher eine kurze Pause im Satz oder sagt vielleicht “äh ... “, um Zeit zu gewinnen. Gelegentlich machen wir aus Zeitnot oder Mangel an Konzentration allerdings auch Fehler, wie etwa in dem Satz "Ich freue mich so, dass Ihr gegangen seid!" (statt: "gekommen seid"). Insgesamt aber funktioniert das gleichzeitige Denken und Sprechen hervorragend und ermöglicht den raschen Redewechsel im natürlichen Gespräch.

Wie bilden sich Gedanken?

Eine wichtige Frage in der Sprachpsychologie ist, welche Planungseinheiten Sprecher beim Aufbau ihrer Äußerungen verwenden. Am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen interessiert Antje Meyer und ihr Team besonders die Frage, wie sich die Gedanken, die ausgedrückt werden sollen, allmählich aufbauen, ob dies für alle Sprecher und in allen Situationen auf die gleiche Weise geschieht oder ob es hierbei systematische Unterschiede gibt. Auch interessiert sie, wie die gedankliche Vorbereitung einer Äußerung mit der Aussprache koordiniert wird, insbesondere wie weit Sprecher vorausplanen, bevor sie beginnen zu sprechen.

Augenbewegungen zeigen Planungsprozesse

Um diese Fragen zu untersuchen, bitten die Wissenschaftler erwachsene Probanden, Szenen, wie etwa in Abbildung 1, in ihrer Muttersprache, dem Niederländischen, zu beschreiben [2]. Sie nehmen die Äußerungen auf und bestimmen auf der Grundlage des Sprachsignals, wann die Probanden anfangen zu sprechen und wann sie jedes weitere Wort aussprechen. Während des Experiments tragen die Probanden eine Augenbewegungskamera (Abb. 2), mit der auf die Millisekunde genau bestimmt werden kann, wann und wie lange sie das „Agens“ (d.h. den Handelnden, also das Mädchen in Abb. 1a) und das „Patiens“ (d.h. denjenigen, der die Handlung "erleidet", also den Jungen in Abb. 1a) ansehen. Diese Vorgehensweise beruht auf dem allgemeinen Prinzip, dass man in der Regel dorthin schaut, wo gerade das "Wichtige" zu sehen ist, also z. B. zum Handelnden, über den man sprechen möchte [3; 4]. Aus den Augenbewegungen können die Wissenschaftler also ableiten, wann ein Sprecher seine Aufmerksamkeit auf einen Bildteil richtet, also vermutlich den entsprechenden Gedanken aufbaut und vielleicht auch die entsprechenden Wörter aus dem Gedächtnis abruft [5; 6; 7]. Dies können sie zu den gesprochenen Äußerungen in Beziehung setzen und so bestimmen, wie weit Sprecher ihre Äußerungen planen, bevor sie anfangen zu sprechen.

Mögliche Planungsstrategien

Wie planen Sprecher nun die Beschreibung von Handlungen? Frühere Studien hierzu legten zwei Hypothesen nahe: Erstens könnten Sprecher vor Äußerungsbeginn nur das erste Konzept und das erste Wort der Äußerung festlegen [8]. Demnach sollten sie, sobald das Bild erscheint, einen der Handlungsteilnehmer, etwa das Mädchen, betrachten und dann sofort zu sprechen beginnen. Die folgenden Wörter in der Äußerung würden dann später geplant. Zweitens könnten Sprecher vor Beginn der Äußerung bereits grob festlegen, was im Bild passiert, also wer was tut [6]. Dann sollten sie zunächst beide Handlungsteilnehmer (den Jungen und das Mädchen) und vielleicht auch andere Bildteile (etwa den Schlitten) betrachten. Im ersten Fall wird nur ein einfaches Konzept festgelegt, während im zweiten Fall vor Äußerungsbeginn bereits eine komplexere gedankliche Struktur gebildet wird. Eine dritte, bisher nicht beachtete Möglichkeit ist, dass Sprecher weder die eine noch die andere Strategie konsistent anwenden, sondern dass ihre Sprechplanung von der Schwierigkeit der Aufgabe abhängt. So könnten sich zum Beispiel mit steigender Schwierigkeit die Planungseinheiten verkleinern. Um die letztgenannte Hypothese prüfen zu können, wurden Bilder verwendet, in denen die Handlungen entweder leicht zu erkennen und zu beschreiben waren (wie in Abb. 1a) oder schwieriger (wie in Abb. 1b, wo eine Leibwache einen Politiker zur Seite zieht). Auch die Erkennbarkeit der Personen wurde variiert, was allerdings in der Graphik nicht dargestellt ist. Die Probanden erhielten keine spezifischen Anweisungen hinsichtlich Art und Länge der Beschreibungen.

Sprecher sind flexibel

Antje Meyer und ihre Gruppe stellten fest, dass das Blickverhalten der Probanden und somit der Zeitverlauf ihrer gedanklichen und sprachlichen Planungsprozesse tatsächlich von der Schwierigkeit der Beschreibungsaufgabe abhingen. Ein Teil der Ergebnisse (nämlich für Beschreibungen mit einfach erkennbaren Personen) ist in Abbildung 3 dargestellt. Hier ist für jeden Zeitpunkt nach Bildbeginn angegeben, welcher Anteil aller Blicke auf das Agens (schwarz) und das Patiens (grau) entfiel. Die Äußerungen begannen nach etwa 1,8 bis 2 Sekunden. Insgesamt betrachteten die Probanden anfangs eher das Agens als das Patiens. Aber wenn die Handlung einfach zu beschreiben war (Abb. 3a), war die Präferenz für das Agens nicht sehr ausgeprägt. Das sieht man daran, dass die schwarze Linie anfangs (bis etwa 600 ms) nur geringfügig oberhalb der grauen lag. Anschließend betrachteten die Probanden bevorzugt das Agens, das in der Regel zuerst erwähnt wurde, und dann das Patiens, das als zweites benannt wurde. Dieses Muster zeigt, dass sich die Probanden zunächst einen Überblick über das Geschehen verschafften (und dabei oft sowohl das Agens als auch das Patiens betrachteten) und eine gedankliche Struktur bildeten, um dann, während sie die einzelnen Wörter aus ihrem mentalen Lexikon auswählten, der Reihe nach zu den beiden Personen zurückzukehren.

Wenn die Handlung dagegen schwerer zu beschreiben war, beschränkten sich die Probanden von Anfang an mehr auf die Betrachtung des Handelnden. Die Phase des allgemeinen Überblicks entfiel weitgehend. Das sieht man in Abbildung 3b daran, dass die schwarze Linie von Beginn an weit oberhalb der grauen liegt, also der Handelnde (Agens) weit häufiger  betrachtet wurde als das Objekt der Handlung (Patiens).

Diese und weitere Analysen zeigten, dass die Probanden nicht starr eine Planungsstrategie verwendeten, sondern – abhängig von der Situation – unterschiedlich planten. War die Situation leicht überschaubar, bildeten sie vor Beginn der Äußerung eine komplexe gedankliche Struktur aus. Bei komplexeren oder undeutlicheren Situationen konzentrierten sie sich zunächst eher auf einen Handlungsteilnehmer und planten den anderen Teil der Äußerung später.

Wir können unsere Äußerungen also auf verschiedene Weise planen und dabei unterschiedlich weit vorausdenken. Zusätzlich können wir natürlich aus einem großen Wortschatz wählen. Beides – die Flexibilität in den Planungsstrategien und die Flexibilität in der Wahl des Gesagten – hilft uns, uns schnell und angemessen auszudrücken.

Ausblick

Eine wichtige allgemeine Frage in der Linguistik und Psycholinguistik ist, inwieweit die Struktur der Sprache das Denken beeinflusst [9; 10]. Da die Experimente am MPI für Psycholinguistik zeigen, dass Sprecher einer Sprache flexibel in der Wahl ihrer gedanklichen Planungseinheiten sind, könnte man erwarten, dass sich Sprecher verschiedener Sprachen erst recht in den Planungseinheiten unterscheiden. In einfachen Aussagesätzen des Deutschen, Niederländischen und Englischen wird erst das Agens und dann die Handlung benannt. Deshalb kann es sich der Sprecher erlauben, die Handlung und das Verb erst während der Aussprache des Agens zu bestimmen. Was aber passiert in Sprachen, in denen die Handlung am Anfang des Satzes ausdrückt werden muss? Wird dann immer erst bestimmt, was in einer Szene geschieht, oder ist es auch dort so, dass die Sprecher sich oft zunächst auf den Agens konzentrieren? Diese und ähnliche Fragen untersuchen die MPI-Forscher in Nimwegen zurzeit in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Abteilung Sprache und Kognition ihres Instituts. Hierbei führen sie ähnliche Untersuchungen wie oben beschrieben in Sprachen durch, in denen das Verb am Satzanfang steht, nämlich im Tzeltal, das in Mexiko gesprochen wird, und im Tagalog, das man auf den Philippinen spricht. Mit solchen sprachvergleichenden experimentellen Studien können die Psycholinguisten untersuchen, wie Sprache und Denken miteinander in Beziehung stehen.

Literaturhinweise

Levelt, W. J. M.
Speaking: From intention to articulation
Cambridge, MA: MIT Press (1989)
Konopka, A. E.; Van de Velde, M.; Meyer, A. S.
Mapping “easy” and “hard” messages onto language: conceptual and structural variables jointly affect the timecourse of sentence formulation
Poster presented at the 18th Annual Conference on Architectures and Mechanisms for Language Processing [AMLaP], Riva del Garda, Italy (September, 2012)
Irwin, D. E.; Gordon, R. D.
Eye movements, attention and trans-saccadic memory
Visual Cognition 5, 127–155 (1998)
Malpass, D.; Meyer, A. S.
The time course of name retrieval during multiple-object naming: Evidence from extrafoveal-on-foveal effects
Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 36, 523-537 (2010)
Bock, J. K.; Irwin, D. E.; Davidson, D. J. J.
Putting first things first
In F. Ferreira & M. Henderson (Eds.), The integration of language, vision, and action: Eye movements and the visual world (pp. 249–278). New York: Psychology Press (2004)
Griffin, Z. M.; Bock, K.
What the eyes say about speaking
Psychological Science 11, 274–279 (2000)
Meyer, A. S.; Sleiderink, A.; Levelt, W. J. M.
Viewing and naming objects: Eye movements during noun phrase production
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On the give and take between event apprehension and utterance formulation
Journal of Memory and Language 57, 544-569 (2007)
Brown-Schmidt, S.; Konopka, A. E.
Little houses and casas pequeñas: message formulation and syntactic form in unscripted speech with speakers of English and Spanish
Cognition 109, 274-280 (2008)
Slobin, D. I.
From "thought and language" to "thinking for speaking"
In J. J. Gumperz and S. C. Levinson (Eds.), Rethinking linguistic relativity, pp. 70-96. Cambridge: Cambridge University Press (1996)

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