Forschungsbericht 2012 - Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht

Neues Standardwerk erschließt Grundlagen für die Entwicklung des europäischen Privatrechts

Autoren
Zimmermann, Reinhard
Abteilungen
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg
Zusammenfassung
Die Entwicklung des europäischen Privatrechts mittels der Gesetzgebungsinstrumente und Regelungsmechanismen der Europäischen Union erfolgt auf der Grundlage eher kurzfristiger, dem politischen Tagesgeschäft verpflichteter Entscheidungen. Als Antwort auf diese Entwicklung hat das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht 2009 das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts herausgegeben. 2012 ist die Max Planck Encyclopedia of European Private Law erschienen, die sich in englischer Sprache an eine internationale Leserschaft richtet.

Vom ius commune zur europäischen Integration

Die Entwicklung einer europäischen Rechtswissenschaft kann auf eine zwar lange, aber nicht ungebrochene Tradition zurückblicken. Seit dem 12. Jahrhundert war das ius commune Gegenstand eines europäischen rechtswissenschaftlichen Diskurses. Dessen Ende wurde eingeleitet von den „vernunftrechtlichen“ Kodifikationen, insbesondere dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (1794), dem französischen Code civil (1804) und dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (1811). Die infolge der Nationalstaatenbildung in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende zweite große Kodifikationswelle, die unter anderem den italienischen Codice civile (1865), das schweizerische Obligationenrecht (1883) und das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (1896) hervorbrachte, trug die gemeinrechtliche Rechtswissenschaft endgültig zu Grabe. Es folgte eine Periode, in der sich die Privatrechtssysteme Europas voneinander abgrenzten und isolierten.

Mit der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden wirtschaftlichen Integration Europas ist ein gegenläufiger Trend zu beobachten. War die europäische Integration in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts auf eine Angleichung des Gesellschafts- und Unternehmensrechts ausgerichtet, so wurde in den Siebzigerjahren die Sozialpolitik betont, was sich in Richtlinien zum Individualarbeitsrecht zeigte. Im Zuge des Binnenmarktprogramms der Achtzigerjahre kam es zu einer Neuausrichtung der gemeinschaftlichen Rechtspolitik auf die Harmonisierung einzelner Bereiche des Privatrechts. Dafür wurden die damals schon vorhandenen Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften genutzt und in den Verträgen von Amsterdam und Lissabon erweitert. Damit überlagert, durchdringt und verdrängt das sogenannte Unionsprivatrecht, also Privatrecht, dessen Geltungsgrund im Unionsrecht liegt, die nationalen Rechte der einzelnen Mitgliedstaaten in immer stärkerem Maße.

Die Europäisierung des Privatrechts

Diese Entwicklung erfolgt jedoch nicht aufgrund systematischer Erwägungen und Konzepte, sondern beruht auf Entscheidungen, die eher dem kurzfristigen politischen Tagesgeschäft verpflichtet sind. Daraus entsteht ein Regelungsgeflecht, das nicht leicht zu durchdringen ist. Auf der Grundlage der Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union prägt der Gerichtshof der Europäischen Union durch seine Rechtsprechung Begriffe und Prinzipien, die auch für die nationalen Rechte der Mitgliedstaaten von Bedeutung sind. Besonders in den Bereichen des Vertrags-, Gesellschafts-, Arbeits- und Urheberrechts nimmt die Richtlinie eine herausragende Stellung innerhalb der Handlungsformen der Europäischen Union ein. So haben die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten bereits unzählige auf Rechtsangleichung ausgerichtete Richtlinien umgesetzt. Zudem haben auf die europäische Rechtsvereinheitlichung ausgerichtete Verordnungen die nationalen Privatrechte verändert.

Außerdem kann der einzelne EU-Bürger sich auf die Grundfreiheiten der Waren- und Personenverkehrsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit sowie der Kapital- und Zahlungsfreiheit berufen. Der Gerichtshof der Europäischen Union kontrolliert dabei auch die Auslegung nationaler Rechtsnormen und misst diese an den Grundfreiheiten. Aus dem seit 1980 durch den Gerichtshof in Luxemburg anerkannten Allgemeinen Gleichheitsgrundsatz folgen spezifische binnenmarktbezogene wettbewerbsrechtliche und gesellschaftspolitische Diskriminierungsverbote, die auf vielfältige Weise in das Privatrecht hineinwirken.

Das europäische Privatrecht ist indes nicht auf die Rechtsakte der Europäischen Union beschränkt. Seit über einem Jahrhundert gibt es Bemühungen, rechtliche Konflikte auf der Ebene internationaler Kooperation zu lösen. Dies führte zum Abschluss internationaler Konventionen in Bereichen wie dem geistigen Eigentum, dem internationalen Warenkauf, dem Luftverkehrsrecht, dem Seeverkehrsrecht oder dem Kindesschutz.

Hinzu trat in der zweiten Haelfte des 20. Jahrhunderts die Idee einer europäischen Rechtsgeschichte. Sie wurde propagiert etwa von Helmut Coing, der die Einheit einer europäischen Rechtswissenschaft „in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ beschwor und den Blick auf die gemeinsamen Wurzeln und gegenseitigen Rezeptionen lenkte. Ziel dieser Strömung ist es, den Weg der europäischen Rechtswissenschaft in Richtung einer fortschreitenden Harmonisierung über die Erinnerung an die gemeinsamen Quellen zu lenken. Auch die Rechtsvergleichung hat sich seit den Achtzigerjahren dem Ziel der wissenschaftlichen Harmonisierung des Privatrechts in Europa verschrieben.

Hierauf aufbauend verfolgen die Principles of European Contract Law einen Ansatz, der keiner Rechtsordnung Priorität einräumt. Sie wurden von einer Gruppe europäischer Hochschullehrer um Ole Lando ausgearbeitet, der seitens des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht Ulrich Drobnig und Reinhard Zimmermann angehörten. Die Principles sind vom Bestreben gekennzeichnet, einen gemeinsamen Kern der Vertragsrechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten zu finden. Inspiriert durch die Arbeit der „Lando-Kommission“ bildeten sich weitere Gruppen, die von der Europäischen Kommission im Jahr 2005 in einem Joint Network on European Private Law mit dem Auftrag zusammengefasst wurden, einen Common Frame of Reference auszuarbeiten. Als weitere Stufe auf dem Weg zu einem europäischen Privatrecht ist die Gründung des European Law Institute (ELI) im Mai 2011 in Paris zu nennen. Das ELI wurde zwar überwiegend von Hochschullehrern des Privatrechts initiiert, befasst sich aber mit allen Bereichen des Rechts. Vorsitzende des ELI Founding Committee waren Irmgard Griss, Präsidentin des österreichischen Obersten Gerichtshofs und Präsidentin des Netzwerks der Präsidenten der Obersten Gerichte in der Europäischen Union, und Reinhard Zimmermann.

Die Rechtswissenschaft hat sich also, ausgehend von den gesetzgeberischen Aktivitäten der Europäischen Union und auf Grundlage der rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Forschung, dem Gebiet des europäischen Privatrechts zugewandt. Die Rechtsquellen bleiben jedoch unübersichtlich und ein übergeordnetes Konzept fehlt weiterhin. Daher stellte sich die Frage, wie Wissenschaftler, Rechtsanwender und Politiker sich in diesem Dickicht zurechtfinden können.

Zwei Standardwerke schaffen Orientierung

In dieser Situation müssen die Bestrebungen der Rechtswissenschaft dahin gehen, das europäische Privatrecht in seiner Gesamtheit zu erfassen, um so die Basis für eine spätere Systematisierung zu legen. Dazu bedarf es unter anderem auch der Aufarbeitung der rechtshistorischen Grundlagen in rechtsvergleichender Perspektive. Als Beitrag zu dieser Entwicklung hat das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht 2009 ein zweibändiges Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts herausgeben, das inzwischen auch in einer Studienausgabe erhältlich ist. 2012 ist die Max Planck Encyclopedia of European Private Law als englische Ausgabe bei Oxford University Press erschienen. Sie ist keine bloße Übersetzung der deutschen Ausgabe, sondern ein eigenständiges Werk, das auf den rechtlichen Hintergrund einer internationalen Leserschaft zugeschnitten ist.

Dem Format der Enzyklopädie folgend besteht das zweibändige Werk im Kern aus 480 alphabetisch angeordneten Stichwort-Artikeln. Aufgrund der Komplexität der Materie werden diese durch zahlreiche Verweise auf Spezialnormen, auf die Rechtsprechung europäischer und internationaler Gerichte sowie auf weiterführende Literatur ergänzt. Hinzu treten ein Themen- und Sachregister sowie ein zentrales Rechtsquellenverzeichnis. Die Enzyklopädie gibt Auskunft über den europäischen Normbestand und bietet Orientierung sowohl für die Rechtswissenschaft als auch für die juristische Praxis und die Politik.

Obwohl die Max Planck Encyclopedia of European Private Law kein systematisches Handbuch ist, leistet sie weit mehr als eine reine Bestandsaufnahme. Sie behandelt viele Teilrechtsgebiete, in denen das vorhandene Wissen derzeit nur in schwer zugänglicher Spezialliteratur verfügbar ist oder noch überhaupt nicht aufgearbeitet wurde. Somit schafft sie eine Grundlage, um das europäische Privatrecht zukünftig durchdringen zu können.

Projektrealisierung

Wie schon das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts ist die Max Planck Encyclopedia of European Private Law das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Projekts aller Arbeitsbereiche am Max-Planck-Institut für Privatrecht. Die Beiträge zu den Stichworten stammen von über 120 Autoren, in der Mehrzahl gegenwärtige oder ehemalige Institutsmitarbeiter, aber auch dem Institut verbundene auswärtige Kollegen, unter ihnen ehemalige Richter am Europäischen Gerichtshof. Besonders hervorzuheben ist die Rolle der Institutsbibliothek. Mit ihren 500.000 Bänden enthält sie für fast alle in der Encyclopedia behandelten Teilbereiche eine ausgezeichnete Forschungsgrundlage und wurde dementsprechend intensiv genutzt.

Literaturhinweise

Basedow, J.; Hopt, Klaus J.; Zimmermann, R. (Hg.)
Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, 2 Bände
Mohr Siebeck, Tübingen (2009)
Basedow, J.; Hopt, Klaus J.; Zimmermann, R. (Hg.)
Max Planck Encyclopedia of European Private Law, 2 Bände
Oxford University Press, Oxford (2012)
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