Forschungsbericht 2012 - Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen

Einkünfte aus grenzüberschreitenden Dienstleistungen: Welcher Staat darf besteuern?

Autoren
Castelon, Marta Oliveros
Abteilungen
Abteilung für Unternehmens- und Steuerrecht
Zusammenfassung
Ein Projekt am MPI für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen untersucht die Besteuerung von Einkünften grenzüberschreitender Dienstleistungen mittels einer rechtspolitischen und -ökonomischen Analyse von Doppelbesteuerungsabkommen. Es gilt, einen Kompromiss zwischen den Interessen von entwickelten und Entwicklungsländern zu finden und die Besteuerung unterschiedlicher Dienstleistungen kohärenter zu gestalten. Ferner sollen bestehende Abkommen an die Realität angepasst werden, wonach die ökonomische Verbindung eines Dienstleisters mit einem Land nicht seine physische Präsenz voraussetzt.

Dienstleistungen werden zunehmend nicht mehr nur im Inland, sondern grenzüberschreitend erbracht: Täglich erstellen Ingenieure, Rechtsberater, Wirtschaftsprüfer oder Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen Gutachten für im Ausland ansässige Personen. Über Patente werden häufig internationale Lizenzverträge abgeschlossen und mit grenzüberschreitenden Trainingsprogrammen (sogenannte Show-how-Dienstleistungen) kombiniert. Der technologische Fortschritt hat es sogar möglich gemacht, dass ein Patient in den USA von einem Roboter operiert wird, den ein Arzt aus Indien in Echtzeit steuert. Diese Entwicklungen eröffnen eine Reihe von Fragen:

Welcher Staat darf Einkünfte aus internationalen Dienstleistungen besteuern? Der Staat, in dem der Dienstleister ansässig ist? Der Staat, in dem die Dienstleistung erbracht wird? Der Staat, in dem die Zahlung angewiesen wird, unabhängig von dem Ort der Dienstleistungserbringung? Der Staat, in dem die Dienstleistung genutzt wird beziehungsweise in dem die Ergebnisse der Dienstleistung zu spüren sind? Wie kann ein Kompromiss zwischen den gegensätzlichen Interessen von entwickelten Ländern, die meist Dienstleistungen exportieren, und Entwicklungs- und Schwellenländern, welche meist Dienstleistungen importieren, gefunden werden? Sind die Modelle für internationale Abkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD-Musterabkommen) und der Vereinten Nationen (UN-Musterabkommen) für die heutige Zeit noch geeignet? Und wenn nicht: Wie könnten sie aktualisiert werden?

Eine brisante Forschungsfrage

Internationale Dienstleistungen machen circa ein Viertel der Exporteinnahmen von EU und USA aus, sind also für den Welthandel immens wichtig geworden. Gleichzeitig werfen sie rechtspolitische Fragen auf, die nicht zu unterschätzen sind. So führten zum Beispiel Divergenzen zwischen Deutschland und Brasilien darüber, wie nach Brasilien importierte Dienstleistungen zu besteuern sind, dazu, dass Deutschland das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den beiden Ländern im Jahr 2005 kündigte.

Sowohl die OECD als auch die UNO haben in den letzten Jahren Experten-Arbeitsgruppen beauftragt, die internationale Dienstleistungsbesteuerung zu untersuchen. Dies verdeutlicht, wie wichtig die Forschungsfrage ist. Die auf Grundlage dieser Untersuchungen erstellten Berichte haben wiederum neue Fragen aufgeworfen. Sie standen 2012 im Mittelpunkt der jährlichen Tagung der namhaften International Fiscal Association in Boston.

Nachfolgend wird ein Überblick über den Forschungsstand gegeben und es werden die wichtigsten steuerrechtlichen Herausforderungen dargestellt, mit denen sich das Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen auseinandersetzt.

Besteuerungsfreiheit der Staaten …

Grundsätzlich ist die Besteuerungsgewalt Teil staatlicher Souveränität. Das heißt, jeder Staat darf frei darüber entscheiden, was (Steuertatbestände) und wie (Bemessungsgrundlage, Steuersatz, Erhebungsverfahren usw.) er besteuert. Auf internationaler (das heißt völkerrechtlicher) Ebene indes wird die Besteuerungsfreiheit der Staaten durch das Erfordernis eines sogenannten genuine link (legitimer Anknüpfungspunkt) eingeschränkt. Das heißt, die Besteuerung darf nur dann erfolgen, wenn eine legitime ausreichende Verbindung zwischen dem Steuerpflichtigen beziehungsweise dem Objekt der Besteuerung und dem besteuernden Staat besteht.

… soweit eine ausreichende Verbindung zwischen Staat und Steuerpflichtigen besteht

Im Allgemeinen erkennen Staaten gegenseitig sowohl die Ansässigkeit des Steuerpflichtigen als auch das Staatsgebiet, aus dem die Einkünfte stammen (Territorialitätsprinzip), als legitime Anknüpfungspunkte an, die eine Einkommensbesteuerung rechtfertigen. Im Falle grenzüberschreitender Dienstleistungen bedeutet dies, dass sowohl der Ansässigkeitsstaat des Dienstleistungserbringers, der die Einkünfte erzielt, als auch der sogenannte Quellenstaat, aus dem die Einkünfte stammen, dieselben für die Einkommensteuer erfassen dürfen. Da sich Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsnehmer immer häufiger in verschiedenen Staaten befinden, wenden viele Staaten den Ort des Ergebnisses beziehungsweise der Verwertung der Dienstleistung sowie den Zahlungsort als Anknüpfungspunkt für eine Quellenbesteuerung an. Zum Beispiel, wenn der Callcenter-Mitarbeiter aus Indien bei IT-Problemen in Deutschland hilft und die Dienstleistung von Indien aus erbracht wird, aber in Deutschland wirksam ist.

Besteuerungsfreiheit führt dazu, dass Einkünfte aus grenzüberschreitenden Dienstleistungen doppelt besteuert werden

Einkünfte aus Dienstleistungen werden also häufig doppelt besteuert: sowohl durch den Staat, in dem der Dienstleister ansässig ist, als auch durch den Staat, in dem die Dienstleistung erbracht oder verwertet wurde – dem Quellenstaat. In der Regel sehen Ansässigkeitsstaaten einseitige Maßnahmen vor, um die Doppelbesteuerung zu beseitigen. Diese unilateralen Maßnahmen haben jedoch den Nachteil, dass sie jederzeit einseitig geändert oder abgeschafft werden können. Außerdem kann der Ansässigkeitsstaat nicht beeinflussen, wie hoch die Besteuerung im Quellenstaat ausfällt und umgekehrt.

Doppelbesteuerungsabkommen als mögliche Lösung

Um Doppelbesteuerung möglichst zu vermeiden und damit die Rechtssicherheit für die Steuerpflichtigen zu erhöhen, schließen die Staaten zweiseitige Doppelbesteuerungsabkommen. Sie definieren darin die erfassten Einkunftsarten und bestimmen, welcher Staat unter welchen Voraussetzungen welche Einkünfte in welcher Höhe besteuern darf und wie die Doppelbesteuerung durch den Ansässigkeitsstaat zu vermeiden ist. Für solche Doppelbesteuerungsabkommen steht weltweit ein Modell Pate, das von der OECD im Jahr 1963 entwickelt wurde und seitdem regelmäßig aktualisiert wird.

Herausforderung Nr. 1: Einen Kompromiss zwischen den Interessen von Dienstleistungsimporteuren und -exporteuren finden

Im Jahr 2011 tätigte der gesamte afrikanische Kontinent 2 Prozent der weltweiten Dienstleistungsexporte. Die Summe der Anteile Süd- und Zentralamerikas belief sich auf 3 Prozent der weltweiten Dienstleistungsexporte. Der nordamerikanische Anteil lag bei 16 Prozent und der europäische Anteil bei 47 Prozent. Sowohl in Afrika als auch in Süd- und Zentralamerika überstieg die Höhe der Dienstleistungsimporte im Jahr 2011 die Höhe der Dienstleistungsexporte. In Europa und in Nordamerika war das Verhältnis umgekehrt. Diese Daten der Welthandelsorganisation (WTO) zeigen in aller Deutlichkeit, dass Entwicklungs- und Schwellenländer meist Importeure und entwickelte Länder meist Exporteure von Dienstleistungen sind (Abb. 1).

Da es sich bei der Mehrheit der OECD-Mitgliedsstaaten um entwickelte Länder handelt, spiegelt das OECD-Musterabkommen überwiegend deren Interessen wider. Als Reaktion auf diesen Umstand wurden Alternativmusterabkommen geschaffen, die die Interessen von Entwicklungsländern stärker berücksichtigen. Das wichtigste Alternativmodell wurde 1980 von der UNO geschaffen. Es hat sich in vielen Abkommen weltweit niedergeschlagen, insbesondere wenn es sich bei mindestens einem der beteiligten Länder um ein Entwicklungs- oder Schwellenland handelte. Das UN-Musterabkommen erweitert die Besteuerungsrechte von Ländern, die überwiegend Dienstleistungen importieren. So setzt es zum Beispiel die Mindestanforderungen für die Quellenbesteuerung herab. Dennoch zeigt die Praxis, dass die Abkommen vieler Entwicklungs- und Schwellenländer mit entwickelten Ländern häufig weit über das UN-Musterabkommen hinausgehen, da dies ihre Interessen nicht ausreichend widerspiegelt. So räumen sie etwa in bestimmten Fällen dem Land der Zahlungsquelle ein Besteuerungsrecht auf Einkünfte ein, auch wenn die Dienstleistung im Ausland erbracht wurde.

Eine erste Herausforderung des Forschungsprojekts am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen ist es, Änderungsvorschläge für die OECD- und UN-Musterabkommen zu entwickeln, die einen Kompromiss zwischen den Interessen von entwickelten Ländern einerseits und Entwicklungs- und Schwellenländern andererseits bei der Besteuerung von Einkünften aus Dienstleistungen finden.

Herausforderung Nr. 2: Unterschiedliche Dienstleistungen in Doppelbesteuerungsabkommen kohärenter behandeln

Sowohl im OECD- als auch im UN-Musterabkommen werden Dienstleistungen in Kategorien unterteilt und ihrer Kategorisierung entsprechend unterschiedlich behandelt – sowohl hinsichtlich der Mindestanforderungen einer Quellenbesteuerung als auch was die Durchführung dieser Besteuerung (ob auf einer Brutto- oder Nettobasis) betrifft. Daraus ergeben sich ein systematisches und ein praktisches Problem: Zum einen ist der Grund der Unterscheidung nicht immer ersichtlich, zum anderen ordnen Staaten dieselbe Dienstleistung häufig in unterschiedliche Kategorien ein, und zwar jeder auf die für ihn vorteilhafte Art und Weise. Werden diese Divergenzen bei der Interpretation im konkreten Fall nicht aufgelöst, verbleibt als Ergebnis eine ungelöste Doppelbesteuerung.

Eines der Ziele des Forschungsprojekts am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen ist, Vorschläge zu erarbeiten, die mehr Kohärenz bei der Behandlung unterschiedlicher Dienstleistungen durch Doppelbesteuerungsabkommen schaffen.

Herausforderung Nr. 3: Die internationalen Modelle zu Doppelbesteuerungsabkommen an die heutige Zeit anpassen

OECD- und UN-Musterabkommen entstammen einer Zeit, in der Dienstleistungen weniger mobil waren. Sie sehen als Grundregel vor, dass der Quellenstaat (das heißt der Dienstleistungsimporteur) nur besteuern darf, wenn der Dienstleister eine feste Geschäftseinrichtung im Land des Dienstleistungsnehmers hat.

Eine weitere Herausforderung des Forschungsprojekts liegt darin, Vorschläge zu machen, die der Tatsache Rechnung tragen, dass die ökonomische Präsenz eines Dienstleisters in einem Land heutzutage immer weniger seine physische Präsenz voraussetzt.

Wie geht man mit den Herausforderungen um?

Ausgangspunkt der Forschungsarbeit ist eine Analyse der OECD- und UN-Musterabkommen sowie der wichtigsten Divergenzen bei der Abkommenspraxis insbesondere von Entwicklungs- und Schwellenländern. Um Lösungsansätze aufzuzeigen, werden die internationale Rechtsdogmatik und Rechtsprechung untersucht. Zudem wird die Problemlage aus einer ökonomischen Perspektive betrachtet.

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