Neurale Interaktionen in Zeiten der Stille

Tübinger Neurophysiologen entwickeln neue Methode, um Nervenzellnetzwerke unseres Gedächtnisses zu untersuchen

21. November 2012

Während wir schlafen, sendet der Hippocampus Nachrichten an die Großhirnrinde und transferiert unser kürzlich erworbenes Wissen ins Langzeitgedächtnis. Doch wie genau geschieht das? Tübinger Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik haben nun eine neuartige multimodale Methode entwickelt und haben erste Ergebnisse aus Versuchen mit anästhesierten und wachen Rhesusaffen publiziert. Die neue Methodik verwendet Multikontaktelektroden in Kombination mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) des gesamten Gehirns, um die weit verteilten Nervenzellnetzwerke abzubilden, die durch lokale, strukturspezifische neuronale Ereignisse aktiviert werden.

Der Hippocampus ist eine unserer ältesten Großhirnstrukturen. Viele invasive Studien an nicht-menschlichen Primaten und klinische Untersuchungen an Patienten haben gezeigt, dass der Hippocampus hauptsächlich für unser Langzeitgedächtnis verantwortlich ist. Er speichert Orte, Ereignisse und deren Zusammenhänge. Das heißt, er ist für die Speicherung der sogenannten deklarativen Gedächtnisinhalte zuständig. Ohne den Hippocampus kann ein Mensch zwar noch Handfertigkeiten wie das Spielen eines einfachen Instruments oder Fahrradfahrern erlernen, jedoch ohne jegliche Erinnerung an die Übungsstunden selbst.

Das deklarative Gedächtnis wird nach bisherigen Erkenntnissen in zwei aufeinander folgenden Schritten konsolidiert: In der ersten Phase, der Enkodierung, wird die Information aufgenommen: Der Hippocampus verbindet die noch labile Repräsentation in der Großhirnrinde mit lokalen Gedächtnisspuren. In den darauf folgenden Ruhe- oder Schlafphasen werden diese neuen Spuren gleichzeitig im Hippocampus und der Hirnrinde reaktiviert. Dadurch werden jene Verbindungen innerhalb der Großhirnrinde verstärkt, die den neu erlernten Inhalt bereits repräsentieren. Aber wie funktioniert der Dialog zwischen Hippocampus und Großhirnrinde, und wie kommuniziert der Hippocampus mit dem Rest des Gehirns?

Nikos Logothetis, Direktor der Abteilung für Physiologie kognitiver Prozesse am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen, und sein Team benutzten hierfür zum ersten Mal die von ihnen neu entwickelte Methode NET-fMRI – „Neural Event Triggered Functional Magnetic Resonance Imaging”. Bei dieser Methode werden vom Hirn selbst erzeugte Signale erfasst, welche vor allem während des Non-REM-Schlafs und den Ruhephasen auftreten. Die Signale werden dann dazu verwendet, Änderungen anderer Signale zu entdecken oder vorherzusagen. Hierzu gehören auch jene, welche mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie gemessen werden. In der vorliegenden Studie wurde ein für den Hippocampus charakteristisches Signal verwendet: die sogenannten „ripples“ sind sehr schnelle Schwingungen bei 80 bis 160 Hertz, die man sowohl in anästhesierten als auch wachen Rhesusaffen messen kann.

Die Neurophysiologen konnten so die Gehirnareale ermitteln, welche durchweg ihre Aktivität in Abhängigkeit zu den Ripples erhöht oder verringert haben. Mit Hilfe von Feldpotenzialen aus dem Hippocampus zeigten die Wissenschaftler, dass die kurzen Abschnitte aperiodischer, wiederkehrender Schwingungen eng mit den robusten Aktivierungen der Hirnrinde verbunden sind, die zeitgleich zu einer umfangreichen Unterdrückung anderer Hirnstrukturen auftreten.

Interessanterweise wurden jene Strukturen gehemmt, deren Aktivität den Dialog zwischen Hippocampus und der Großhirnrinde prinzipiell hätten behindern können. Die Unterdrückung der Thalamus-Aktivität, zum Beispiel, reduziert Hirnsignale, die im Wachzustand der Sinnesverarbeitung dienen. Die Unterdrückung der Basalganglien, der Brückenregion – die unter anderem für den REM-Schlaf verantwortlich ist – sowie des Kleinhirns zeigt an, dass Aktivität in anderen Gedächtnissystemen gehemmt wird. Diese werden unter anderem für das prozedurale Lernen, beispielsweise des Fahrradfahrens, benötigt.

Die Ergebnisse der Studie bieten grundlegende Einblicke in die globale Organisation des Gedächtnisses von Primaten, einer kognitiven Fähigkeit, die erst durch das Zusammenspiel weit verteilter neuronaler Netzwerke zustande kommt. Diese Einblicke wären weder ausschließlich mit der funktionellen Bildgebung, noch allein mit der klassischen Methode von Einzelzellableitungen möglich gewesen. Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis können deshalb am besten mithilfe multimodaler Methoden wie der NET-fMRI untersucht werden. Die Bedeutung der Untersuchung von neuronalen Mechanismen kann nicht genügend betont werden, beruht doch die überwiegende Mehrheit hirnorganischer Ausfälle auf Fehlfunktionen großer neuronaler Netzwerke. Sie umfassen sowohl die Hirnrinde als auch die darunter liegenden Kerngebiete.

SB/HR

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