„Die Evolution des Menschen ist bunt geworden“

Interview mit Matthias Meyer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie zu den neuen Analysen des Denisova-Genoms

Ein winziger Fingerknochen und zwei Backenzähne in einer Höhle im Altai-Gebirge sind die einzigen bislang bekannten Überreste des Denisova-Menschen – einer Menschenform, die Max-Planck-Forscher ausschließlich anhand ihres Erbguts identifiziert haben. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben nun zusammen mit einem internationalen Forscherteam das Genom des Denisova-Menschen in bislang unerreichter Genauigkeit analysiert. Für Matthias Meyer vom Leipziger Max-Planck-Institut eröffnet sich damit eine Fülle neuer Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Menschen.

Herr Meyer, was ist das Außergewöhnliche an den jetzt veröffentlichten Ergebnissen?

Matthias Meyer: Noch nie ist das Erbgut eines ausgestorbenen Organismus so detailliert entschlüsselt worden wie das des Denisova-Menschen. Und das, obwohl der Knochen mit der DNA über 50.000 Jahre in einer Höhle lag. Die Qualität der Daten ist so gut, wie wenn Sie heute Ihr eigenes Genom analysieren lassen würden. Wir können sogar zwischen den mütterlichen und väterlichen Chromosomen unterscheiden. Ein Vergleich der beiden Chromosomensätze zeigt uns, dass die Eltern unseres Denisova-Menschen – obwohl nicht miteinander verwandt – genetisch sehr ähnlich waren. Daraus schließen wir, dass es nicht sehr viele dieser Menschen gegeben haben kann.

Die Entstehungsgeschichte des Menschen wird durch Ihre Befunde immer komplizierter: Denisova-Mensch, Neandertaler, moderner Mensch. Wer stammt eigentlich von wem ab?

Wir stammen weder vom Denisova-Menschen noch vom Neandertaler ab. Unsere Erbgut-Analysen dieser drei Menschen-Formen haben ergeben, dass unser letzter gemeinsamer Vorfahr grob geschätzt vor rund 500.000 Jahren gelebt hat.  Der Vorfahr von Denisova-Mensch und Neandertaler hat sich dann getrennt vom modernen Menschen entwickelt und diese beiden Menschenformen hervorgebracht – sie sind also Geschwisterarten. Homo sapiens ist erst vor 120.000 bis 200.00 Jahren entstanden. Die Entwicklungsgeschichte des Menschen ist also in der Tat recht bunt geworden.

Die Out-of-Africa-Theorie besagt, dass die Ursprünge der Menschheit in Afrika liegen. Wie haben sich denn unsere Vorfahren von dort ausgebreitet?

Das im Moment plausibelste Szenario ist, dass es mindestens zwei Auswanderungswellen aus Afrika gegeben hat: Vor etwa einer halben Millionen Jahren ist die Gruppe von Urmenschen aus Afrika ausgewandert, aus der Neandertaler und Denisova-Mensch entstanden sind. Der Neandertaler siedelte sich vor allem in Europa bis nach Zentralasien an, der Denisova-Mensch lebte in Ostasien.

Während einer zweiten Wanderungswelle vor fünfzig bis hunderttausend Jahren hat erstmals Homo sapiens, also der moderne Mensch, den afrikanischen Kontinent verlassen und ist nach Eurasien gezogen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass es noch weitere Menschenformen gab und unser Stammbaum erneut überarbeiten werden muss?

Das ist durchaus möglich. Der Fund eines kleinen Fingerknochens des Denisova-Menschen war reiner Zufall. Äußerlich unterscheidet er sich überhaupt nicht von einem Finger des modernen Menschen oder des Neandertalers. Erst die genetische Untersuchung hat gezeigt, was für ein außergewöhnlicher Fund wir in den Händen halten. Je mehr Fundstücke wir also molekularbiologisch untersuchen, desto größer ist natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, eine weitere Menschenform zu entdecken.

Wir kennen aber neben Neandertalern und Denisovanern auch schon jetzt eine vierte Form die zeitgleich mit modernen Menschen lebte, den Homo floresiensis, der 2004 auf der indonesischen Insel Flores gefunden wurde. Bisher ist noch unklar, wie er in den Stammbaum einzuordnen ist. Leider sind die tropischen Klimabedingungen auf Flores für die Erhaltung von DNA sehr ungünstig. Deshalb habe ich wenig Hoffnung, dass das Genom analysieren können.

Großes Aufsehen hat der Befund erregt, dass sich die verschiedenen Menschenformen miteinander vermischt haben. Wie viel Neandertaler oder Denisova stecken heute noch in uns?

Das ist davon abhängig, aus welchem Teil der Erde man stammt. Wir haben festgestellt, dass ein Prozent der DNA eines Europäers mit der DNA des Neandertalers übereinstimmt. Überraschenderweise liegt die Übereinstimmung beim Ostasiaten mit 1,8% wesentlich höher, obwohl das Besiedlungszentrum des Neandertalers hauptsächlich in Europa lag. Möglicherweise haben sich also Homo sapiens und Neandertaler in Asien häufiger vermischt als in Europa.

Der Denisova-Mensch dagegen hat seine Spuren nur im Erbgut verschiedener Volksgruppen in Südostasien hinterlassen. So stammen beispielsweise rund 3 Prozent des Genoms von Menschen auf Papua Neuginea oder der Aborigines vom Denisova-Menschen.

Bedeuten diese Zahlen, dass es nur selten zu solchen Vermischungen gekommen ist?

Sie waren sicher die Ausnahme. Es ist aber durchaus möglich, dass der Anteil fremder DNA in unserem Erbgut ursprünglich höher war und dass Teile davon wieder verloren gingen, beispielsweise durch natürliche Selektion.

Haben sich auch Neandertaler und Denisova-Mensch miteinander vermischt?

Das wissen wir noch nicht. Dazu müssen wir auch das Neandertaler-Genom so genau analysieren, wie uns das jetzt im Fall des Denisova-Menschen gelungen ist. 

Wie stark unterscheidet sich der Denisova-Mensch von uns?

Wir haben rund 100.000 Stellen im Genom gefunden, an denen die Mehrheit der lebenden Menschen sich vom Denisova-Mensch unterscheiden. Das ist aber gar nicht so viel, wie es klingt, denn nur 260 davon befinden sich in Regionen, die Information für Proteine liefern. Auffällig ist, dass die Veränderungen verstärkt in Genen stattgefunden haben, die die Entwicklung des Nervensystems, die Funktionsweise des Gehirns sowie die Beschaffenheit von Augen und Haut betreffen.

Ein Beispiel für eine Veränderung von Genbereichen zwischen zwei Arten ist das EVC2-Gen, das beim modernen Menschen, wenn es mutiert, das Ellis-Van-Creveld-Syndrom auslöst – eine seltene Krankheit, bei der die Patienten unter anderem veränderte Zähne besitzen. Ob dies der Grund für eine veränderte Zahnform beim Denisova-Menschen ist, wird erst zukünftige Forschung klären können. Bereiche wie diese werden wir deshalb in Zukunft noch genauer untersuchen.  In jedem Fall können wir durch den Vergleich der Genome sehr viel darüber lernen, was uns von unseren nächsten Verwandten unterscheidet.

SB/HR

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht