Superschwer und trotzdem stabil

Messungen des Schaleneffekts in Atomkernen tragen dazu bei herauszufinden, ab welcher Masse extrem schwere künstliche Elemente nicht mehr zerfallen

20. August 2012

Das schwerste Element der Erde ist Uran mit der Ordnungszahl 92 im Periodensystem. Superschwere Elemente bis zur Nummer 118 sind zwar schon künstlich erzeugt worden, doch ihre Atomkerne zerplatzen schnell. Dank eines subtilen Quanteneffekts könnten allerdings noch schwerere Atomkerne jenseits Element 120 jahrelang existieren. Nach dieser mutmaßlichen „Insel der Stabilität“ sucht die Physik schon lange. Ein internationales Team, darunter Klaus Blaums Gruppe vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, ist dabei jetzt einen entscheidenden Schritt weitergekommen. In einem spektakulären Präzisionsexperiment am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt konnte die Kooperation erstmals die Stärke der Schalenstabilität in schweren Kernen mit 152 Neutronen messen. Ein Durchbruch im Verständnis der Physik von Atomkernen.

Physiker assoziieren mit dem Namen „von Weizsäcker“ nicht zuerst den Altbundespräsidenten, sondern dessen älteren Bruder Carl Friedrich. Dieser hat als Physiker in den 1930er- und 40er-Jahren entscheidend zur Beschreibung eines so  kleinen wie eminent wichtigen Baustein der Materie beigetragen –  dem Atomkern. „Dieses Jahr wäre Carl Friedrich von Weizsäcker hundert Jahre alt geworden“, erinnert Klaus Blaum an den deutschen Physiker, dessen Atomkernmodell noch heute in modifizierter Form angewendet wird. Im lange fast stagnierenden Wissen über den Aufbau von Atomkernen ist nun Blaum und seinen Kollegen in einer großen internationalen Kooperation ein entscheidender Durchbruch gelungen. Auf dieses Ziel hatten viele Physiker seit Jahrzehnten hingearbeitet, und der 2007 verstorbene Carl Friedrich von Weizsäcker wäre zweifelsohne fasziniert gewesen.

Ein Atom besteht, salopp gesagt, aus einer ausgedehnten Elektronenwolke und einem vergleichsweise winzigen Atomkern. Trotzdem vereinigt der Kern die gesamte Masse des Atoms in sich. Nicht nur das, ein Atomkern ist zudem äußerst komplex aufgebaut. Und je größer so ein Kern ist, desto unübersichtlicher wird das Spiel der Kräfte, das seine Existenz bestimmt.

Zwei Kräfte liefern sich in Atomkernen einen Wettstreit

Protagonisten in diesem Spiel sind die Kernbausteine, die neutralen Neutronen und die elektrisch geladenen Protonen. Die Protonen stoßen sich mit der zweitstärksten Kraft der Physik, der elektrischen Kraft, heftig voneinander ab. Diese Abstoßung ringt jedoch die stärkste heute bekannte Kraft der Physik, die starke Kraft, nieder. Mit ihrem superstarken Klammergriff zwingt sie den Kern zusammen. Doch wie jeder Superheld, sei er Achilles, Siegfried oder Superman, hat sie einen Schwachpunkt: ihre Reichweite ist gering. Ihre superstarken Arme sozusagen sind viel kürzer als diejenigen der elektrischen Kraft geraten. Die Folge: Je größer ein Atomkern wird, desto schlechter kann die starke Kraft ihn gegen die elektrische Kraft zusammenhalten. Ab einer gewissen Größe wird er instabil und platzt auseinander.

Allerdings trifft dieses einfache Bild nur grob zu. Ein großer Atomkern bildet nämlich mit seinen über hundert Protonen und weit mehr als hundert Neutronen ein äußerst komplexes Vielteilchensystem, das wie eine Zwiebel in Schalen unterschiedlicher Protonen- und Neutronenzahlen aufgebaut ist. In dieser geballten Ansammlung von Quantenteilchen spielt nun ein Effekt, der aus den Ordnungsprinzipien der Quantenwelt erwächst, entscheidend mit: Atomkerne mit perfekt gefüllten Schalen sind stabiler als andere. Dieser Effekt führt sogar dazu,  dass vergleichsweise riesige Atomkerne zusammengehalten werden, die eigentlich zerfallen müssten.

Wer noch Erinnerungen an den Schulunterricht in Chemie oder Physik hat, kennt diesen Schaleneffekt in etwas anderer Form. Auch die Elektronenwolke lässt sich in Energieschalen unterteilen, und die Elektronenschalen von Edelgasen sind besonders stabil. Ursache ist wieder dieses Ordnungsprinzip. Elektronen sind wie Protonen und Neutronen gewissermaßen Individualisten der Quantenwelt, die einen Quantenzustand für sich allein beanspruchen. Und jede Schale bietet nur eine begrenzte Anzahl von Plätzen. Bei den Edelgasen sind diese Plätze in der äußersten Schale voll, deshalb sind sie chemisch extrem stabil. Dieser Quanteneffekt schützt sie gegen die Angriffe anderer, chemisch aggressiver Elemente, die zum Beispiel ihre nicht ganz vollständig besetzen Schalen unbedingt mit Elektronen anderer Atome füllen wollen.  „Das ist wie ein Ringelreihenspiel mit Kindern, bei denen der tanzende Ring geschlossen ist“, erklärt Blaum: „Für weitere Kinder wird es dann schwieriger, noch hinein zu kommen.“

Messungen mit der weltweit empfindlichsten Waage für Atomkerne

Dieses Schalenspiel läuft auch in den Atomkernen ab. Allerdings sind die Schalen der großen Atomkerne viel komplexer aufgebaut als Elektronenschalen. Die vielen Kernbausteine beeinflussen sich alle gegenseitig. Deshalb können die Theoretiker bislang nur sehr ungenau abschätzen, welche Schalen bei welcher „magischen“ Zahl von Bausteinen wirklich gefüllt sind. Das müssen also Experimentatoren mit ausgefeilten Tests herausfinden. Und das gelang der Kooperation, an der Blaums Team beteiligt war, nun in Darmstadt erstmals mit den Elementen 102, Nobelium, und 103, Lawrencium. Auf deutscher Seite waren daran neben den Physikern aus Darmstadt und Heidelberg Gruppen der Universitäten in Mainz, Gießen, Greifswald und der Ludwig-Maximilians-Universität München beteiligt.

Die beiden Elemente 102 und 103 erzeugten die Forscher zunächst mit dem Schwerionenbeschleuniger in Darmstadt. Allerdings entstehen so schwere Elemente dabei nur sehr selten. Diese wenigen elektrisch geladenen Atome fängt eine aufwendige Apparatur namens SHIPTRAP ein – und auch das gelingt nur zu einem kleinen Teil. SHIPTRAP ist die empfindlichste Waage der Welt für Atomkerne, die schwerer als Uran sind. Sie kann die Masse dieser Atomkerne ungeheuer genau wiegen. Natürlich funktioniert SHIPTRAP völlig anders als eine Haushaltswaage. Sie fängt das elektrisch geladene Atom (Ion) in einer Falle aus elektromagnetischen Feldern ein. In diesem Schwebekissen vollführt das Ion eine komplexe Schaukelbewegung, bei der die Schaukelfrequenz von der Masse des Atomkerns abhängt.

Die magische Zahl lautet 152

Aus der Frequenz gewinnen die Physiker also eine hochpräzise Information über Masse des Kerns. Doch nun stellt sich die Frage, wie sie von der Masse des Kerns zu dessen inneren Aufbau kommen. Der Schlüssel ist Einsteins berühmte Formel E = mc2. Nach ihr sind Masse und Energie zwei Seiten derselben Medaille.  Also liefert die gemessene Masse die Energie, die im Atomkern steckt. Und ein Teil dieser Energie, die sogenannte „Bindungsenergie“, liefert wiederum die entscheidende Information über den genauen Schalenaufbau des Kerns. Mit dieser raffinierten Methode hat das Team nun aus dem Wiegen der Elemente 102 und 103 mit einer variierenden Zahl von Neutronen eine „magische“ Zahl gewonnen: 152 Neutronen muss die äußere Neutronen-Schale enthalten. Dann ist sie voll und stabilisiert den Kern.

„Damit konnten wir einige der bis dahin benutzten Modelle für Atomkerne als unzutreffend ausschließen“, kommentiert Blaum die weitreichenden Folgen dieses Durchbruchs. Das Bild des inneren Aufbaus von schweren Atomkernen wird nun nach Jahrzehnten endlich klarer. Mit diesem Wissen gewappnet können die Physiker nun gezielter nach der berühmten Insel der Stabilität suchen. „Wir erwarten sie ungefähr bei Element 120“, sagt Blaum, „und zwar in einem Kern mit etwa 180 Neutronen.“

Sind solche langlebigen, superschweren Elemente künstlich herstellbar, dann könnten sie vielleicht sogar bei seltenen Ereignissen im Universum entstehen. Noch ist kein solches Extremelement nachgewiesen, aber der Kosmos ist gigantisch. Auf jeden Fall erweitert solche Grundlagenforschung unser Wissen darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält.

RW/PH

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