Eine Insel als Spiegel der Welt

La Réunion ist für Ralf Sommer und Matthias Herrmann vom Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie wie die Gálapagos-Inseln für Charles Darwin. Auf der Insel im indischen Ozean untersuchen die Biologen mithilfe eines sehr unscheinbaren Tieres, dem Fadenwurm, wie Artenvielfalt entsteht

19. Mai 2010

Die winzigen Würmer kommen weltweit in nahezu allen Ökosystemen vor und zählen zu den artenreichsten Gruppen im Tierreich. Die Biologen konnten nun einen Stammbaum dieser Tiere aufstellen, der ihre weltweite Ausbreitung erklärt. Dabei halfen ihnen Studien auf der Insel La Réunion. Der Wurm Pristionchus pacificus wurde dort häufig als "blinder Passagier" eingeschleppt. Dadurch erreichte er eine hohe genetische Vielfalt und konnte sich so schnell an neue Lebensräume anpassen. Wieso ausgerechnet diese Art auf der ganzen Welt so erfolgreich ist, wollen die Wissenschaftler an der neuen Außenstelle weiter erforschen. "Dazu müssen auch populationsgenetische und evolutionsökologische Aspekte berücksichtigt werden", sagt Ralf Sommer, Direktor am Tübinger Institut. (Biological Journal of the Linnean Society, April 2010)

In freier Natur geht P. pacificus eine faszinierende Verbindung mit Käfern aus der Familie der Blatthornkäfer ein, zu denen auch Mai-, Mist- und Rosenkäfer gehören. Die Jungwürmer verharren als Dauerstadien auf einem Käfer und warten dort auf dessen Tod. Stirbt der Wirt, nehmen sie ihre Entwicklung wieder auf und ernähren sich von den Mikroben, die den sich zersetzenden Leichnam besiedeln. Matthias Herrmann, Insektenforscher und Fadenwurmexperte in Sommers Abteilung, hat dies vor einigen Jahren entdeckt. Um den nahen Verwandten des bestens untersuchten Caenorhabditis elegans in seiner ganzen Vielfalt zu erkunden, waren die Tübinger Biologen bereits auf der ganzen Welt unterwegs. Seit zwei Jahren untersuchen sie die Fadenwürmer auch auf La Réunion, einer nur 50 mal 50 Kilometer großen Insel im Indischen Ozean. Auf diesem überschaubaren Terrain lassen sich die Interaktionen der untersuchten Art genau erfassen - ideale Voraussetzungen für Studien zur Populationsgenetik und deren Dynamik. Dabei fahndet er nach Käferarten, die nur hier vorkommen, sowie solchen, die eingeschleppt wurden. "Viele unter ihnen könnten einzigartige Fadenwürmer beherbergen", sagt Herrmann.

Die Tübinger Entwicklungsbiologen haben zunächst 96 Fadenwürmer, die auf der Insel vorkommen, genetisch untersucht. Die Proben konnten die Forscher vier verschiedenen Arten zuordnen. 76 Isolate zählten zur Art P. pacificus. Um deren Verwandtschaft untereinander vergleichen und mögliche Unterschiede zu anderen, weltweit vorkommenden P. pacificus-Isolaten herauszufinden, analysierten die Biologen das Erbgut in den Mitochondrien der Tiere. Mit verblüffendem Ergebnis: Wie sich zeigte, repräsentieren die auf Réunion gefundenen Exemplare einen Großteil der weltweit bekannten genetischen Diversität dieses Fadenwurms. "Das deutet darauf hin, dass die Insel seit ihrer Entstehung vor zwei bis drei Millionen Jahren mehrmals unabhängig von den Würmern besiedelt wurde", sagt Ralf Sommer. Die bisherigen Analysen sprechen zudem dafür, dass die Würmer bereits gemeinsam mit ihren jeweiligen Wirtskäfern auf der Insel eintrafen.

Die enge Assoziation von P. pacificus mit den Käfern stellte die Forscher bislang vor Probleme. Denn bis sie das gesammelte Material nach Deutschland gebracht hatten, waren die Käfer schon lange tot. In ihnen lebten nicht mehr die ursprünglichen Würmer, sondern bereits deren Nachkommen. Seit Januar diesen Jahres können die Wissenschaftler nun direkt auf der Insel mit ersten Analysen beginnen: Im Januar haben sie in der Hafenstadt Le Port einen Laborcontainer eingeweiht. Die sechs Meter lange Außenstation des Instituts ermöglicht Langzeitstudien auf der Insel. Denn in Zukunft wollen die Tübinger Wissenschaftler ihre weltweiten Studien durch populationsgenetische Studien auf La Réunion ergänzen. "Für uns ist es wichtig zu erfahren, ob phänotypische Unterschiede, die wir zuvor zwischen weit entfernt lebenden P. pacificus-Stämmen beobachtet haben, auch an einem lokalen Standort auftreten", sagt Sommer. Das könnte Aufschluss darüber geben, welchen Beitrag die natürliche Variation zwischen Individuen zur Evolution einer Art leistet. Auch wie sich bestimmte Eigenschaften im Lauf der Jahre und in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen verändern, wollen die Forscher auf der Insel herausfinden.

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