Gruppendynamik im Innenohr

Forscher haben herausgefunden, wie sensorische Haarbündel im Innenohr zur Verstärkung und Analyse akustischer Signale beitragen

11. August 2010

Haare sind unverzichtbar - zumindest im Innenohr. Haarbündel, mikroskopisch kleine, pinselartige Ausstülpungen spezialisierter Sinneszellen, verstärken dort leise Töne und ermöglichen es Wirbeltieren Tonhöhen zu unterscheiden. Viele Haarbündel im Ohr sind über eine elastische Schicht mit ihren Nachbarn verbunden. Diese Interaktion könnte eine Voraussetzung für die Verstärkung der leisen Töne sein. Das fanden Forscher vom Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme zusammen mit Kollegen aus Paris heraus. Erstmals koppelten die Biophysiker für ihre Untersuchungen ein lebendes Haarbündel mit zwei simulierten Exemplaren im Computer. (PNAS, 107 (18) 8079-8084 (2010))

Unter dem Mikroskop bewegt sich etwas: Wie ein Kornfeld im Wind neigen sich feine Härchen unter einer unsichtbaren Kraft - immer mal wieder in unregelmäßigen Abständen. Der Forscher befestigt vorsichtig eine winzige stumpfe Nadel an einem der Härchen, die mit ihrem anderen Ende in einen kleinen Kasten ragt. Über ihn ist das Haarbündel nun mit einem Computer verbunden: Ein Signal aus dem Rechner und die winzige stumpfe Nadel zieht oder drückt sanft, so dass sich das Haarbündel in die eine oder andere Richtung neigt.

Erstmals haben Wissenschaftler ein lebendes Haarbündel aus dem Innenohr eines Ochsenfroschs elastisch mit simulierten Haarbündeln im Computer gekoppelt. Die Gruppe um Frank Jülicher vom Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme erforscht in enger Zusammenarbeit mit Pascal Martin von der Universität Pierre et Marie Curie in Paris die biophysikalischen Grundlagen des Hörens. Dazu untersuchen die Forscher, wie Haarbündel der äußeren Haarzellen in Wirbeltieren den Schalldruck verstärken und Frequenzen analysieren. Grundsätzlich gilt: Je fester die Haarbündel miteinander verbunden sind, desto gleichmäßiger schwingen sie und desto besser verstärken sie den Schalldruck: "Das ist darauf zurückzuführen, dass die Zufallskräfte, denen das Haarbündel ausgesetzt ist, durch die Kopplung effektiv reduziert werden. Dieser Effekt ist theoretisch mittlerweile gut verstanden.", sagt Kai Dierkes vom Dresdner Max-Planck-Institut, der das Experiment gemeinsam mit Jérémie Barral vom Institut Curie in Paris durchgeführt hat. "Die Problematik besteht allerdings darin, dass das Gehör bei zu fester Kopplung der Haarbündel verschiedene Frequenzen nicht mehr unterscheiden könnte."

Das Forscherteam stellte fest, dass Haarbündel Frequenzerkennung und Vibrationsverstärkung, dann am besten vereinen, wenn das Verbindungsstück zwischen ihnen in etwa so steif ist, wie die Haarbündel selbst. Auf schwachen Druck reagierten sie dann im Experiment immer noch zweimal empfindlicher als isolierte Haarbündel. "Es ist bekannt, dass Haarbündel in der menschlichen Gehörschnecke unterschiedlich stark verbunden sind, je nachdem wie flexibel sie selbst sind", sagt Benjamin Lindner, Leiter der Gruppe für stochastische Prozesse in der Biophysik am Institut in Dresden. "Wir haben herausgefunden, welchen Sinn diese räumlich variierende Verbindungsstärke haben könnte."

Jedes Haarbündel ragt aus der Oberfläche einer Haarzelle hervor, die auf einer Membran im Innenohr sitzt. Wie ein Prisma Licht in seine Spektralfarben zerlegt, so teilt die Membran Schall in Töne unterschiedlicher Frequenzen. Dabei ist jedes Haarbündel für eine bestimmte Frequenz zuständig - verhalten sich alle Haarbündel gleich, so wie es für die Verstärkung optimal wäre, könnte das Ohr nur noch einen Ton wahrnehmen. "Damit wir viele verschiedene und gleichzeitig aber auch leise Töne hören, musste die Natur also einen Kompromiss zwischen Konformität und Individualität der Haarbündel finden", sagt Kai Dierkes.

Dieser Kompromiss scheint jedoch nur für leise Töne von Bedeutung zu sein: Die Forscher beobachteten, dass Haarbündel nur schwachen Schalldruck verstärken, laute Töne dagegen unterstützen sie nicht, egal wie sie miteinander verbunden sind. "Großer Schalldruck bringt die Basilarmembran, auf der die Haarzellen sitzen, offenbar unmittelbar mechanisch in Schwingung, während leise Töne durch die Haarbündel verstärkt werden müssen," sagt Benjamin Lindner. Je lauter ein Ton ist, also je stärker die Basilarmembran von sich aus schwingt, desto geringer wird der Einfluss der Druckverstärkung durch die Haarbündel.

Für ihre aktuelle Untersuchung koppelten die Forscher erstmals ein lebendes Haarbündel an zwei simulierte Exemplare in einem Computer. Dazu isolierten sie zunächst eine Haarzelle aus dem Innenohr des Ochsenfroschs. Dessen Haarbündel können die Forscher im Gegensatz zu menschlichen unter dem Mikroskop eine gewisse Zeit am Leben halten. Außerdem sind sie recht groß und darum gut zu handhaben. "Im Ochsenfrosch sitzen ganz unterschiedliche Haarbündel nebeneinander, während sie im menschlichen Gehör wie auf einer Tonleiter angeordnet sind", sagt Kai Dierkes. "Wir mussten also zu den Computer-Klonen greifen, um die Situation im Ohr des Menschen realistisch nachzustellen." Daher haben die Forscher das Verhalten des realen Haarbündels - etwa mit welcher Frequenz es spontan schwingt und wie weit es sich dabei neigt - mit einer Photodiode unter dem Lichtmikroskop untersucht und danach zwei virtuelle Klone geschaffen. Auf der Grundlage theoretischer Arbeiten können die Wissenschaftler die virtuellen Haarbündel im Computer so nachstellen, dass deren Bewegungen einem echten Haarbündel in hohem Maße ähneln.

Das Computermodell berechnet dann auch die Kraft, mit der die Glasfaser an einer Haarspitze des lebenden Bündels ziehen oder drücken muss, um eine bestimmte Kopplung wiederzugeben. "Die Verbindung zwischen Haarbündeln kann man sich vorstellen wie eine Feder: Je nachdem wie fest die Bündel gekoppelt sind, verändert sich die Spannkraft der Feder", sagt Kai Dierkes. Zu jeder Zeit misst der Computer über die Photodiode die Auslenkung des echten Haarbündels und berechnet die Reaktion der Klone, die die Glasfaser wiederum an das lebende Haarbündel weitergibt. "Dadurch, dass die Haarbündel unmittelbar aufeinander reagieren müssen, verhalten sie sich, als seien sie alle echt." Auf diese Weise untersuchten die Forscher sowohl das Verhalten der Haarbündel bei Stille, als auch deren Reaktion auf Schallwellen - jeweils bei unterschiedlichen Verbindungsstärken.

Bereits vor zwei Jahren haben die Wissenschaftler aus Dresden das Verhalten gekoppelter Haarbündel mithilfe einer Computersimulation analysiert. "Wie sich einzelne Haarbündel bewegen war schon damals gut erforscht. Daraus haben wir dann auf das Gruppenverhalten geschlossen", sagt Benjamin Lindner. Mit dem aktuellen Experiment untermauern die Forscher nun diese Ergebnisse. Außerdem tragen die neuen Daten dazu bei, ein präzises Modell zu entwickeln, das die Schwingung der Basilarmembran für jede Frequenz und jeden Schalldruck beschreibt.

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