Quantengas im freien Fall

Physiker erzeugen ein Bose-Einstein-Kondensat in der Schwerelosigkeit - ein Schritt hin zu extrem sensiblen Quantensensoren für die Gravitation

17. Juni 2010

Ein empfindliches Messgerät darf man nicht fallen lassen - dann ist es mit der Präzision gewöhnlich vorbei. Doch genau das hat ein Forscherteam getan, an dem auch Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik beteiligt waren. Und die Wissenschaftler wollen das Messinstrument auf diese Weise sogar noch sensibler machen. Das Team um Physiker der Universität Hannover hat in einem Fallturm an der Universität Bremen eine Apparatur zu Boden sausen lassen, in der sie ein schwereloses Bose-Einstein-Kondensat (BEC) erzeugten. Die Teilchen in einem BEC verlieren ihre Individualität und lassen sich als ein ‚Super-Teilchen’ betrachten. Mit einem solchen ultrakalten Quantengas in der Schwerelosigkeit wollen die Forscher ein sehr empfindliches Messgerät für das Schwerefeld der Erde konstruieren - etwa um Lagerstätten von Rohstoffen aufspüren, aber auch um fundamentale Fragen der Physik klären. (Science, 18. Juni 2010)

Eine Feder fällt im Vakuum genauso schnell wie eine Bleikugel - das wird schon Schülern als unumstößlich präsentiert. "Aber beim Äquivalenzprinzip handelt es sich nur um ein Postulat, das getestet werden muss", sagt Ernst Maria Rasel, Professor an der Universität Hannover. Nach dem Äquivalenzprinzip entspricht die schwere Masse, mit der sich Körper anziehen, der trägen Masse, die sich einer beschleunigenden Kraft entgegensetzt. Daraus ergibt sich, dass im Vakuum alle Körper mit demselben Tempo auf den Erdboden schlagen. Ob diese Hypothese tatsächlich Gesetz werden kann, wollen Physiker mit einem Messgerät untersuchen, dass die Schwerkraft extrem genau misst. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat das Team um Ernst Maria Rasel nun gemacht.

Die Forscher haben in der Schwerelosigkeit ein Bose-Einstein-Kondensat (BEC) erzeugt und eine gute Sekunde lang beobachtet, wie sich die Atomwolke im freien Fall verhält. Zu diesem Zweck bauten sie einen Atomchip, den Wissenschaftler um Theodor W. Hänsch, Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik, entwickelt haben, sowie Magnetspulen, Laser, eine Kamera und die nötige Energieversorgung in eine zylinderförmige Kapsel, die etwa so hoch und breit ist wie eine Tür. Nachdem sie eine Wolke aus einigen Millionen Rubidiumatomen auf den Atomchip befördert hatten, stürzten sie die gesamte Apparatur 146 Meter in die Tiefe. Auf solche wissenschaftlichen Fälle ist ein Turm am Center for Applied Space Technology und Microgravity der Universität Bremen spezialisiert.

Während die Kapsel darin vier Sekunden lang zu Boden fiel, erzeugten die Forscher auf dem Atomchip zunächst ferngesteuert das BEC: Auf dem Chip halten starke Magnetfelder und Laser die Teilchen fest und kühlen sie. Wenige Millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt, der Temperatur bei minus 273,16 Grad Celsius, haben die Teilchen fast sämtliche Energie verloren und nehmen einen neuen Aggregatzustand an: Jetzt befinden sich alle Atome im quantenmechanischen Grundzustand, so dass sie sich im Quantengas nicht mehr länger als individuelle Teilchen unterscheiden lassen.

Ein Atomchip - der schnelle Weg zum ultrakalten Quantengas

"Sie verhalten sich dann vollkommen kohärent, quasi ein Atomhaufen, der die Eigenschaften eines einzigen riesigen Atoms annimmt", sagt Tilo Steinmetz, der als Forscher des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik an dem Experiment beteiligt war. Da sich nach den Gesetzen der Quantenmechanik jedes Teilchen auch als Welle betrachten lässt, kann man das Geschehen auch anders beschreiben: Es bildet sich ein Materiewellenpaket, in dem sich die Atome nicht mehr an fixen Punkten aufhalten - sie sind delokalisiert. Dieser Verbund bleibt solange erhalten, bis ein noch so kleiner energetischer Schubs ihn durcheinander bringt.

"Auf unserem Atomchip erzeugen wir ein BEC in weniger als einer Sekunde, in einer gewöhnlichen Laborapparatur dauert das bis zu einer Minute", sagt Tilo Steinmetz. Außerdem braucht ein Experiment auf einem Atomchip deutlich weniger elektrische Leistung. "Daher eignet es sich ideal für den Einsatz in einer Fallturmkapsel, wo die Energieversorgung und Kühlung eine logistische Herausforderung darstellen", so Steinmetz.

Zehnmal mehr Zeit für eine Messung

Sobald sich die Atome auf dem Chip zu dem Super-Teilchen vereinigt hatten, lockerten die Forscher den Griff der Falle vorsichtig und ließen das BEC frei. Mit der Kamera in der Kapsel verfolgten sie nun, wie sich das Kondensat ausdehnte. Diese Bewegung reagiert extrem empfindlich auf äußere Felder - etwa auf Unterschiede im Schwerefeld der Erde. Diese Unterschiede entstehen, weil die Gravitation an einem bestimmten Punkt der Erde von der dortigen Dichte der Erdkruste abhängt. Sie machen sich bei der Expansion des Bose-Einstein-Kondensats umso deutlicher bemerkbar, je länger es sich ausdehnt, je länger es also in der Schwerelosigkeit schwebt. Alleine beim Experiment im Fallturm verlängerten die Forscher die Zeit, die für eine Messung zur Verfügung stünde, im Vergleich mit einem Labor-Experiment um mehr als das Zehnfache. Das könnte künftig helfen, die Genauigkeit von Messdaten drastisch zu verbessern.

Messen lassen sich die Unterschiede in einem Atom-Interferometer: Ein Quantengas, also das Materiewellenpaket, wird in zwei Teile gespalten und bewegt sich im Gravitationsfeld entlang unterschiedlicher Bahnen durch die Raumzeit. Die Gravitation verhält sich wie ein optisches Medium, dessen Brechungsindex die Wellen bricht. Sobald sich beide Teile wieder vereinigen, kommt es zur Interferenz, wie sie auch bei ineinander laufenden Wellen auf einer Wasseroberfläche entsteht. Das Muster der Interferenz hängt davon ab, wie unterschiedlich die beiden Materiewellen expandieren. Vergleicht man nun Materiewellen unterschiedlicher Zusammensetzung, führt man einen Test des Äquivalenzprinzips mit Materiewellen durch. Ein solches Atom-Interferometer wollen die Physiker um Ernst Maria Rasel nun für die Kapsel des Bremer Fallturms konstruieren.

"Letztlich möchten wir solche Experimente gerne im Weltall vornehmen", sagt Ernst Maria Rasel. Dort ließe sich auch das Äquivalenzprinzip testen. Zu diesem Zweck müssen die Forscher Wolken verschiedener Atome möglichst lange auf die Erde fallen lassen. Dann könnten sie herausfinden, ob tatsächlich alle Körper gleich schnell fallen. Und die Chancen, das zu klären, stehen umso besser, je länger die Atomwolken in der Schwerelosigkeit bleiben - also je tiefer der Sturz.

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