Neue Ansätze in der Evolutionstheorie

Was zählt? Die Gruppe, die Verwandtschaft oder nur das Individuum? Evolutionsbiologen wollen herausfinden, warum sich Verhalten in genetischen Änderungen festschreibt

12. Februar 2010

Evolutionäre Anpassungen - sogenannte Adaptionen - zeigen sich nicht nur im äußeren Erscheinungsbild oder den Instinkten, sie offenbaren sich auch im Sozialverhalten. Evolutionsbiologen stellen sich daher schon lange die Frage, warum sich spezielles Verhalten in einer genetischen Veränderung manifestiert und durch Vererbung weitergegeben wird. Um diese Frage zu beantworten, betrachten sich Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön das Verhalten von Individuen in einer Gruppe näher. (Evolution, Volume 64 Issue 2, Januar 2010)

Bis in die 1960er-Jahre haben Evolutionsbiologen viele Adaptationen dadurch erklärt, dass Einzelne im Sinne einer Gruppe gehandelt haben. Dies kann dadurch geschehen, dass einzelne Individuen die Anzahl ihrer Nachkommen begrenzen, um das Überleben der Gruppe nicht zu gefährden. Dadurch wären bestimmte Gruppen gegenüber anderen im Vorteil: Altruistisches Verhalten könnte sich durchsetzen.

Diese Sichtweise ist aber seit den 1960er-Jahren in Verruf geraten. Demnach ziehen in einer Gruppe stets diejenigen den größten Nutzen, die den eigenen Vorteil im Auge haben und nicht den Nutzen für die ganze Gruppe. Individualselektion, nicht Gruppenselektion, ist meistens die entscheidende Grundlage für Anpassungen.

Warum handeln jedoch in einer Gruppe immer wieder einzelne scheinbar selbstlos für andere? Als Erklärung wurde die Verwandtenselektion entwickelt, die Wissenschaftler mit den Worten des Genetikers John Burdon Sanderson Haldane (1892-1964) erklären: "Ich würde in den Fluss springen, um zwei Brüder oder acht Cousins zu retten". Man riskiert also sein eigenes Leben, um Verwandte zu schützen - oder, um es wissenschaftlicher auszudrücken, um 100 Prozent des eigenen Erbguts zu retten. Ein bestimmtes Verhalten kann sich also auch dann durchsetzen, wenn man nicht selber daraus einen Vorteil zieht, sondern genetische Verwandte. Individual- und Verwandtenselektion bestimmten lange Zeit die gängigen Erklärungsmuster.

"Mittlerweile hat sich aber durch evolutionsbiologische Analysen und Experimente herausgestellt, dass es viele Populationsstrukturen gibt, die mit Individual- und Verwandtenselektion nicht zufriedenstellend zu erklären sind", sagt Arne Traulsen vom Plöner Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie. "In diesen Populationsstrukturen kommt es überraschenderweise doch zu einer Art Gruppenselektion". Somit ist in den letzen Jahren die Diskussion, ob es nun Gruppenselektion gibt oder nicht, neu entbrannt. Ehemals starke Verfechter der Verwandtenselektion haben ihren Standpunkt radikal geändert und propagieren nun die Gruppenselektion. Viele Evolutionsbiologen, die sich dem Problem mathematisch nähern, behaupten dass mathematisch gesprochen beide Ansätze gleich sind und man somit getrost alles mit Verwandtenselektion erklären kann. Aber ist diese mathematische Äquivalenz genauso stark wie zum Beispiel das zwischen den verschiedenen Betrachtungsweisen in der Quantenmechanik?

Eine genaue Betrachtung der Details beider Ansätze zeigt, dass es subtile, aber wichtige Unterschiede in der Art gibt, mit der Evolutionstheoretiker beider Lager sich dem Problem nähern. Beide Ansätze führen oftmals dazu, dass man formal gleiche Bedingungen dafür bekommt, wie und wann sich bestimmtes Verhalten durchsetzt. Aber die Definition des Begriffs "Verhalten setzt sich durch" ist sehr unterschiedlich. Dies kann zum Beispiel bedeuten, dass die Wahrscheinlichkeit ein Verhalten zu zeigen die Chance einer Anpassung erhöht. Es kann sich aber auch im populationsgenetischen Sinne um die Wahrscheinlichkeit halten, dass die Selektion ein Gen, das dieses Verhalten sofort zu 100 Prozent hervorruft, gegenüber neutralen, nicht durch Selektion betroffenen Mutationen bevorzugt.

Genau an diesem Punkt setzen die Evolutionstheoretiker im Team von Arne Traulsen vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön an. "Es sind diese Unterschiede, die zeigen, dass die Debatte, ob Gruppenselektion nun ein sinnvolles Konzept ist oder nicht, keineswegs kurz vor ihrem Ende steht. Im Gegenteil, wir müssen uns erst über die genauen Definitionen der Bedingungen klar werden, die wir diskutieren", sagt Traulsen. Sind die Bedingungen definiert, ist es möglich, Verhalten mit den Mitteln der Mathematik zu beschreiben und die Diskussion um Gruppen-, Verwandtschafts- und Individualselektion in entscheidend neue Bahnen zu lenken.

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