Der verschlungene Weg der Nervenimpulse

Für die elektrische Hirnstimulation in der Medizin ergeben sich neue Möglichkeiten, weil sich die Nervenimpulse dabei anders ausbreiten als bislang gedacht

8. September 2010

Unsere Sinnesorgane nehmen ständig Informationen aus der Umwelt auf und leiten sie über Nervenbahnen an verschiedene Stationen im Gehirn. Hier werden die Signale weiterverarbeitet, bevor sie schließlich in unser Bewusstsein gelangen. Die künstliche Stimulation von Nervenzellen, mit der unter anderem das Gehirn untersucht wird, funktioniert aber offenbar anders. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen haben nun herausgefunden, dass künstlich erzeugte Nervenimpulse bei der Stimulation des Thalamus nicht ohne Weiteres in der Großhirnrinde weitergeleitet werden. Bisher ging man davon aus, dass die künstliche Stimulation von Nervenzellen genauso abläuft wie die Verarbeitung natürlicher Nervenreize. Dass dies zumindest für manche Teile des Gehirns nicht zutrifft, könnte auch medizinisch relevant sein. Denn auch Parkinson-Patienten werden mit der Hirnstimulation behandelt, allerdings in einem anderen Teil des Gehirns. (Nature Neuroscience, Advance Online Publication 5. September 2010 DOI:10.1038/nn.2631).

Manche Methode der Medizin hat Erfolg, auch wenn man sie nicht richtig versteht. Mit der elektrischen Stimulation (ES) etwa behandeln Ärzte erfolgreich verschiedene neurologische Störungen. So erhalten beispielsweise Menschen, die an der Parkinsonschen Krankheit oder anderen Hirnerkrankungen leiden, einen Hirnschrittmacher, der die Symptome deutlich lindern kann. Zudem wenden Wissenschaftler die elektrische Stimulation seit mehr als 100 Jahren bei Menschen und Tieren an, um die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen. Mit dieser Methode haben sie die funktionellen Verbindungen von Gehirnarealen aufgeklärt und somit die Grundlage geschaffen, um die komplizierten neuronalen Prozesse zu verstehen, die unserer Wahrnehmung und unserem Denken zugrunde liegen. Doch offenbar breiten sich die künstlichen Impulse der elektrischen Stimulation im Gehirn anders aus als bislang gedacht.

Als Forscher des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen den Thalamus, die zentrale Vermittlungsstelle zwischen Sinnesorganen und Großhirnrinde, stimulierten, beobachteten sie bei Rhesusaffen eine erhöhte Hirnaktivität in der ersten Verarbeitungsebene der Großhirnrinde. Gleichzeitig stellten sie fest, dass die Hirnaktivität in den höheren Hierarchieebenen des Verarbeitungsprozesses stark abnahm. "Wir vermuten daher, dass durch elektrische Stimulation verursachte neuronale Signale nicht über die erste Verarbeitungsebene der Hirnrinde hinaus weitergeleitet werden", sagt Nikos Logothetis, Direktor am Tübinger Max-Planck-Institut und Leiter der Studie.

Mehr noch: Wie die Studie von Nikos Logothetis und seinen Kollegen zeigt, deaktiviert die elektrische Stimulation die höheren Verarbeitungsebenen sogar. Damit verhält sie sich ganz im Gegensatz zu den natürlich produzierten Nervensignalen, die die höheren Verarbeitungsebenen anregen. Daraus schließen die Forscher, dass die Verhaltenseffekte, die bei der elektrischen Stimulation beobachtet werden, nicht auf einer Übertragung der Signale innerhalb der Großhirnrinde allein beruhen. Vielmehr sind dabei offenbar weitere, außerhalb der Großhirnrinde liegende Hirnareale eingebunden. "Unsere Ergebnisse werfen ein ganz neues Licht auf die Art und Weise, wie Nervensignale durch gesunde und erkrankte Gehirne wandern und eröffnen damit Wege für die Entwicklung von Elektrotherapien und Neuroprothesen", sagt Nikos Logothetis.

Bei einem typischen ES-Experiment wird an einer bestimmten Stelle des Gehirns ein kurzer elektrischer Stromimpuls in das Nervengewebe abgegeben. Dieser regt die Zellmembran der Nervenzellen an und führt zu Nervenzellimpulsen, die entlang der Nervenfasern durch das Gehirn bis zum vorgesehenen Zielort wandern. "Trotz der verbreiteten medizinischen Anwendungen ist bislang aber nur sehr wenig darüber bekannt, wie es die elektrische Stimulation bewerkstelligt, dass sich die Signale im Gehirn auf der Netzwerkebene ausbreiten", sagt Yusuke Murayama, einer der beteiligten Wissenschaftler.

Unter natürlichen Umständen aktiviert das Nervensignal eines Sinnesorganes Schritt für Schritt die beteiligten Verarbeitungszentren innerhalb der Großhirnrinde, wenn das Signal durch das Gehirn geleitet wird. Dies führt schließlich zu einer akkuraten Repräsentation unserer Umgebung, auf die wir dann mehr oder weniger gut reagieren können. Dabei spielt aber nicht nur die Anregung der Nervenzellen eine wichtige Rolle, sondern vor allem auch die Signalunterdrückung. Andernfalls würde uns die Informationsflut durch unsere Sinnesorgane schnell überfordern. Bislang dachten Neurologen, dass die künstliche elektrische Stimulation nach demselben Prinzip wirkt.

Dass das nicht so ist, haben Nikos Logothetis und seine Kollegen herausgefunden, als sie den Mechanismus der elektrischen Stimulation mit einer selbst entwickelten Kombination dieser Methode mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) untersuchten. Letztere Methode liefert Informationen über die Hirnaktivitäten in einem großen Gehirnbereich.

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