Fälle aus dem europäischen Rechtsalltag

Beispiele für Urteile des Europäischen Gerichtshofes

15. September 2009

Das europäische Privatrecht durchdringt mittlerweile alle Rechtsgebiete, vom Arbeitsrecht über das Familienrecht und Unternehmensrecht bis hin zum Verbraucherrecht. Im Folgenden sind einige Urteile des Europäischen Gerichtshofs und deren Auswirkung auf das deutsche Recht beispielhaft zusammengestellt:

Verbraucherschutz / "Pia Messner"

Pia Messner erwarb aufgrund eines Internetangebots von der Beklagten ein gebrauchtes Notebook zum Preis von 278 Euro. Elf Monate später widerrief sie den Vertrag, weil sie mit dem Gerät nicht zufrieden war und bot Rücksendung des Notebook gegen Erstattung des Kaufpreises an. Die Beklagte wandte ein, dass die Klägerin ihr Wertersatz in Höhe von 316,80 schulde für die Nutzung des Notebook während der elf Monate. Ein solcher Anspruch bestünde in der Tat nach deutschem Recht (§§ 346 I iVm 357 I BGB). Der EuGH entschied jedoch, dass diese Regelung nicht europarechtskonform ist, da sie gegen die Fernabsatzrichtlinie verstößt, nach der der Verbraucher nach Widerruf nur die "unmittelbaren Kosten der Rücksendung" der Ware schulde.

Familienrecht / "Grunkin-Paul"

Am 27. Juni 1998 wurde in Dänemark Leonhard Matthias Grunkin-Paul als Sohn von Frau Paul und Herrn Grunkin geboren, die damals miteinander verheiratet waren, beide Deutsche sind und seinerzeit in Dänemark lebten. Ihr Sohn wurde mit dem Nachnamen Grunkin-Paul in das dänische Standesamtsregister eingetragen. Später zogen die Eltern nach Deutschland und wollten dort ein Familienbuch beim deutschen Standesamt anlegen lassen. Der Standesbeamte weigerte sich, den Sohn mit dem Namen Grunkin-Paul einzutragen. Denn der Name eines Deutschen richte sich allein nach deutschem Recht (Art. 10 EGBGB), und danach könnten die Eltern nur entweder den Nachnamen des Vaters oder den der Mutter für das Kind bestimmen (§ 1617 BGB). Auf Vorlage des Amtsgerichts Flensburg entschied der EuGH, dass die Nichtanerkennung des Namens, wie er in einem anderen Mitgliedstaat eingetragen worden sei, mit dem Recht jedes Unionsbürgers, sich frei in der EU zu bewegen, unvereinbar sei. (2. EuGH 14.10.2008, Rs. C-353/06 (Grunkin-Paul))

Arbeitsrecht / "Mangold"

Der Münchener Rechtsanwalt Helm stellte im Juni 2003 den 56jährigen Anwaltsgehilfen Mangold für die Dauer von ca. sechs Monaten ein. Zur Begründung der Befristung nahm der Arbeitsvertrag ausdrücklich Bezug auf das Teilzeitbefristungsgesetz, das nach einer Änderung durch die rot-grüne Regierungskoalition in Berlin die Möglichkeit vorsah, Personen über 52 Jahre befristet einzustellen, ohne dass es für die Befristung - wie sonst - eines sachlichen Grundes bedurfte. Nach Abschluss des Vertrages berief sich Herr Mangold auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen des Alters, wie es in einer EG-Richtlinie speziell für Arbeitsverhältnisse vorgesehen ist: Personen über 52 würden durch das deutsche Gesetz schlechter behandelt als jüngere Arbeitnehmer. Auf Vorlage des Arbeitsgerichts München entschied der EuGH, dass die fragliche Richtlinie zwar zu dem maßgeblichen Zeitpunkt im Juni 2003 in den Mitgliedstaaten noch nicht in nationales Recht umgesetzt sein musste. Doch komme in der Richtlinie und anderen Rechtsakten ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zum Ausdruck, wonach die Diskriminierung aus Gründen des Alters verboten sei; dieser Grundsatz werde von der deutschen Regelung verletzt. Um dieses Urteil ist eine sehr heftige Kontroverse ausgebrochen, in der sich auch der frühere Bundespräsident Herzog mit einem Zeitungsartikel ("Stoppt den EuGH") zu Wort gemeldet hat. Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehen manche in der Entscheidung Mangold des EuGH ein Beispiel für einen "ausbrechenden" Akt der EG, dem nicht Folge zu leisten ist. Darüber muss das Bundesverfassungsgericht demnächst entscheiden. (3. EuGH 22.11.2005, Rs. C-144/04 (Mangold))

Gesellschaftsrecht / "VW-Gesetz"

Im Zuge der Privatisierung der Volkswagenwerk GmbH und deren Umwandlung in eine Aktiengesellschaft im Jahre 1960 entstand das VW-Gesetz. Im Rahmen dieses Gesetzes wurden der öffentlichen Hand Sonderrechte eingeräumt, die deren Einfluss auf den Automobilhersteller erhalten sollten. Drei der darin festgelegten Sonderrechte waren Gegenstand des EuGH-Urteils in der Rechtssache C-112/05 der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland: Erstens die Begrenzung der Stimmrechte auf 20 Prozent, auch wenn der Aktionär über mehr als 20 Prozent der Anteile verfügt; zweitens eine verbindlich vorgeschriebene Entsendung von Behördenvertretern in den Aufsichtsrat und drittens die Notwendigkeit einer qualifizierten Mehrheit von mehr als 80 Prozent des Grundkapitals für Grundlagenentscheidungen - und damit eine Sperrminorität von 20 Prozent statt der im deutschen Aktienrecht üblichen 25 Prozent. Die EU-Kommission sah in diesen Regelungen ein Hindernis für ausländische Investoren und reichte nach langjährigem Streit mit der Bundesregierung am 12. März 2005 Klage beim EuGH ein. In seinem Urteil vom 23. Oktober 2007 entschied der EuGH, dass das VW-Gesetz gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Artikel 56 EG verstößt. Daraufhin legte die Bundesregierung im Mai 2008 den Entwurf eines neuen VW-Gesetzes vor, das zwar auf zwei der Sonderrechte (Höchststimmrechte und Entsenderechte) verzichtete, die Sperrminorität von 20 Prozent aber beibehielt. Im Juni 2008 leitete die Kommission erneut ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen nicht erfolgter Umsetzung des EuGH-Urteils ein und verschärfte dies im November 2008. Möglicherweise steht 2009 eine weitere Klage der Kommission beim EuGH bevor.

Über das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht:

Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht beschäftigt sich mit der rechtsvergleichenden Grundlagenforschung auf den Gebieten des ausländischen, europäischen sowie internationalen Privat-, Handels-, Wirtschafts- und Zivilverfahrensrechts. Hierfür analysiert das Institut systematisch ausländische Rechtsordnungen und vergleicht diese sowohl mit dem deutschen Recht als auch untereinander. Ein wichtiges Ziel der Forschungsarbeit ist dabei, die Möglichkeiten für eine Vereinheitlichung der bestehenden nationalen Rechtssysteme zu untersuchen. Dies ist im vereinten Europa und vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung sowie der damit einhergehenden Internationalisierung des Rechts eine Aufgabe von großer wissenschaftlicher und praktischer Bedeutung. Das Institut verfügt über eine der umfangreichsten Sammlungen für Zivilrechtsliteratur in der Welt.

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