Mehr als ein Sprung nach links

Eine Gedächtnisstudie zu Tanzbewegungen entdeckt grundsätzliche interkulturelle Unterschiede

Wenn Ihr Tanzlehrer Sie bittet, "einen Schritt nach links" zu machen, würden Sie seiner Instruktion umgehend folgen. Wie aber würden Sie reagieren, wenn Sie stattdessen "einen Schritt nach Süden" machen sollen? In einer neuen Studie hat ein interdisziplinäres Forscherteam der Max-Planck-Institute für Psycholinguistik (Nijmegen, Niederlande) und evolutionäre Anthropologie (Leipzig) herausgefunden, dass sich Menschen verschiedener Kulturen sehr unterschiedlich an die Bewegungen ihrer eigenen Körper erinnern. (Current Biology, 14. Dezember 2009)

Obwohl der physische Raum überall auf der Welt denselben Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, wird er in den Sprachen verschiedener Kulturen unterschiedlich dargestellt. So nutzen manche Menschen beispielsweise statt der egozentrischen Bezeichnungen "links, rechts, vorne, hinten" jederzeit und ungeachtet der Größenordnung die allozentrischen Bezeichnungen "Norden, Süden, Osten, Westen", wenn sie von räumlichen Beziehung sprechen: "Der Löffel befindet sich nördlich der Schüssel" oder "Da ist eine Schlange bei deinem nördlichen Bein". In einer neuen Studie haben die Forscher Daniel Haun und Christian Rapold Kinder zweier Kulturen miteinander verglichen, die räumliche Beziehungen sprachlich auf unterschiedliche Art und Weise ausdrücken: Deutsche, deren Sprache den Raum vorzugsweise in "links, rechts, vorne, hinten" aufteilt, und die Akhoe Hai||om, eine Gruppe von teilweise nomadisch lebenden Jägern und Sammlern aus dem nördlichen Namibia. Sie unterteilen vorzugsweise in "Norden, Süden, Osten, Westen".

Forscher derselben Gruppe hatten bereits in einer früheren Studie herausgefunden, dass Kulturen sich hinsichtlich der Art und Weise unterscheiden, wie der Aufenthaltsort von Objekten im Raum im Gedächtnis gespeichert wird. Informationen darüber, wo sich unsere eigenen Hände und Füße befinden, werden dagegen gemeinhin im Gehirn stark "egozentrisch" strukturiert. Daher könnte man erwarten, dass sich alle Menschen auf ähnliche Art und Weise an Körperbewegungen erinnern. Die neue Studie zeigt nun, dass diese Annahme falsch ist.

Manche Kulturen orientieren Bewegungen an Himmelsrichtungen

In der aktuellen Studie brachten Forscher Kindern einen kurzen Tanz bei, bei dem die Kinder ihre ineinander verschlungenen Hände in der Abfolge "rechts-links-rechts-rechts" (RLRR) von einer Seite des Körpers zur anderen bewegten. Anschließend wurden die Teilnehmer 180 Grad um ihre eigene Achse gedreht und gebeten, den Tanz zu wiederholen. Danach tanzten sie ein drittes Mal, diesmal wieder entsprechend ihrer ursprünglichen Ausrichtung. Wenn die Teilnehmer den RLRR-Tanz in egozentrische Koordinaten speichern, sollten sie sowohl nach der ersten als auch nach der zweiten Drehung eine RLRR-Abfolge produzieren. Wenn die Teilnehmer den RLRR-Tanz stattdessen in allozentrische Koordinaten speichern, sollten sie nach der ersten Drehung eine LRLL-Abfolge und nach der zweiten Drehung eine RLRR-Abfolge produzieren. Während fast alle deutschen Kinder eine körperzentrierte Abfolge wählten, merkten sich die meisten Akhoe Hai||om Kinder die Bewegungen ihrer Gliedmaßen im Bezug auf ihre Umgebung. Anders ausgedrückt, ihre Arme bewegen sich nicht nach rechts sondern nach Westen.

"Menschliche Kognition unterscheidet sich mehr als bisher angenommen von einer Kultur zur anderen", sagt Daniel Haun, Mitglied der Max-Planck-Forschungsgruppe für Vergleichende Kognitive Anthropologie. "Sogar alltägliche Aufgaben, von denen wir uns gar nicht vorstellen können, sie jemals anders zu tun, z.B. wie wir uns an Bewegungen des eigenen Körpers erinnern, werden an anderen Orten der Welt auf eine andere Art und Weise gelöst. Wir sollten also innehalten und darüber nachdenken, wie wenig wir eigentlich über die Vielseitigkeit menschlicher mentaler Prozesse wissen. Die Gemeinschaft der Akhoe Hai||om steht exemplarisch für viele andere Kulturen der Welt, deren Konzepte über ihre Umgebung sich stark von unseren unterscheiden. Diese Kulturen sind der Schlüssel dazu, die Formbarkeit des menschlichen Verstands zu verstehen. Da diese erstaunlichen Kulturen jedoch mehr und mehr verschwinden, ist es notwendig, menschliche Vielfalt schnellstmöglich zu dokumentieren."

Die Max-Planck-Forschungsgruppe für Vergleichende Kognitive Anthropologie (Nijmegen, Niederlande) hat es sich daher zum Ziel gesetzt, zukünftig das Ausmaß interkultureller Variabilität in verschiedenen Bereichen der menschlichen Kognition zu dokumentieren und die psychologischen Mechanismen zu bestimmen, die die erstaunliche interkulturelle kognitive Vielfalt der menschlichen Spezies ermöglichen und erhalten.

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