Nutzen von Hirnjogging-Produkten fraglich

Wissenschaftler empfehlen kritische Prüfung von Angeboten

6. Mai 2009

30 namhafte Kognitions- und Neurowissenschaftler sowie Alternsforscher fordern in einem gemeinsam unterzeichneten Memorandum die wissenschaftliche und unabhängige Überprüfung der Wirksamkeit von "Hirnjogging"-Produkten und geben Empfehlungen auf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das jetzt veröffentlichte Memorandum ist das Ergebnis eines Expertentreffens, das auf Einladung des Stanford Center on Longevity und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung im April letzten Jahres stattfand.

In weniger als einem Jahrhundert ist die Lebenserwartung in den entwickelten Ländern um durchschnittlich 30 Jahre gestiegen. In diesem Zusammenhang wächst bei vielen Menschen die Sorge, ihre Selbständigkeit im hohen Alter durch körperliche und geistige Einschränkungen zu verlieren. Eine steigende Zahl kommerzieller Anbieter verspricht, geistige Fähigkeiten im Alter durch Hirntraining zu erhalten oder zu steigern. Eine wissenschaftliche Absicherung dieses Versprechens liegt jedoch zumeist nicht vor.

Auf Einladung des Stanford Center on Longevity und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung trafen sich im April 2008 namhafte Kognitions- und Neurowissenschaftler sowie Alternsforscher an der Stanford University in Kalifornien. Ziel des Treffens war unter anderem die Erarbeitung einer gemeinsamen Erklärung, die die Verbraucher über den aktuellen
Stand der Wissenschaft informiert. "Die Erklärung bezieht sich vor allem auf kommerzielle Anbieter, die das Blaue vom Himmel versprechen", erklärt Ulman Lindenberger, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. "Das Zaubermittel, das die alterungsbedingte Minderung der Hirnleistung oder gar Alzheimer aufhält, gibt es bislang nicht", betont Laura Carstensen, Direktorin des Stanford Center on Longevity und Mitinitiatorin des Memorandums.

Die Unterzeichner unterstützen ausdrücklich die weitere Forschung zu softwarebasierten kognitiven Trainingsprogrammen. Die Ergebnisse einiger neuerer Untersuchungen geben Anlass zu Optimismus. "Moderne Technik bietet ein großes Potential für die soziale und geistige Anregung im Alter", ergänzt Ulman Lindenberger. "Technik, soziale Teilhabe und Altern bilden keine Gegensätze. Die moderne Informationstechnologie kann auch älteren Erwachsenen, die beispielsweise in ihrer körperlichen Mobilität eingeschränkt sind, sinnvolle Möglichkeiten bieten. Soziale Kontakte könnten mit ihrer Hilfe aufrecht erhalten oder sogar neu geknüpft werden.
Zukünftige software-basierte kognitive Trainingsprogramme sollten diese soziale Dimension von vornherein berücksichtigen. Ihre langfristige Wirksamkeit sollte in Verlaufsstudien überprüft werden."

Inhalte des Memorandums (für das englische Originaldokument, siehe auch
http://longevity.stanford.edu/about/pressreleases/CognitiveAgingConsensus):

  • Es gibt Grund zum Optimismus. Die geistige Leistungsfähigkeit älterer Erwachsener nimmt im historischen Vergleich zu. Ältere Menschen in entwickelten Ländern sind heute im Durchschnitt geistig leistungsfähiger als Menschen desselben Alters in früheren Zeiten. Die Alternsforschung erkundet die gesamte Bandbreite möglicher Alternsverläufe und versucht, Ursachen günstiger und ungünstiger Verläufe zu ermitteln und zu beeinflussen.
  • Obwohl plausible biochemische Erklärungsmodelle vorliegen, belegt die Summe der derzeit vorliegenden klinischen Studien nicht, dass Nahrungsergänzungsmittel wie zum
    Beispiel Gingko biloba die geistige Leistungsfähigkeit steigern oder deren Abbau aufhalten. Insgesamt liegen nur zu wenigen Nahrungsergänzungsmitteln Ergebnisse aus großen kontrollierten klinischen Studien mit Zufallszuordnung vor, die in begutachteten Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Wir regen an, die Wirkung von Nahrungsergänzungsmitteln weiter eingehend zu untersuchen.
  • Softwarebasierte Trainingsprogramme und Denkspiele verbessern die Fertigkeiten, die sie trainieren. Hingegen zeigen nur sehr wenige dieser Programme eine positive Wirkung (im Sinne eines Transfers) auf allgemeine geistige Fähigkeiten oder Leistungen in Alltagssituationen. Wenn man zum Beispiel eine Gedächtnistechnik zum Einprägen von Wortlisten trainiert, so gelingt es einem anschließend besser, sich Listen von Wörtern zu merken. Es gibt jedoch bislang nur wenig Hinweise darauf, dass dieses Training die Gedächtnisleistung insgesamt verbessert, und es nach Abschluss des Trainings etwa besser als zuvor gelingt, den verlegten Autoschlüssel zu finden. Wir empfehlen dringend, die Wirksamkeit von softwarebasierten Trainingsprogrammen und Denkspielen weiter zu untersuchen und ermuntern Interessierte, an entsprechenden wissenschaftlichen Studien teilzunehmen.
  • Verbraucher sollten sich bei ihrer Entscheidung, kommerzielle Hirntrainingsprogramme zu erwerben, am Vorliegen unabhängiger wissenschaftlicher Überprüfungen der Wirksamkeit dieser Produkte orientieren. Untersuchungen, die von interessierter Seite (z.B. vom Hersteller) durchgeführt und nicht unabhängig überprüft wurden, sind wenig aussagekräftig. Von weitaus höherem Wert sind Ergebnisse, die von unabhängigen Gutachtern geprüft und in einer anerkannten Fachzeitschrift veröffentlicht wurden. Die Wiederholbarkeit (Replikation) dieser Ergebnisse in weiteren Untersuchungen an unabhängigen Forschungseinrichtungen erhöht deren Glaubwürdigkeit zusätzlich. Wir befürworten die Durchführung unabhängiger Untersuchungen zur Wirksamkeit von Erfolg versprechenden Hirntrainingsprogrammen sowie zur Wirksamkeit der auf dem Markt befindlichen, nicht oder unzulänglich überprüften Produkte.
  • Besondere Vorsicht ist bei Produkten geboten, die versprechen, Alzheimer oder anderen Formen dementieller Erkrankungen vorzubeugen oder diese Krankheiten heilen zu können. Es gibt derzeit keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass markterhältliche Softwareprogramme oder andere kognitive oder soziale Interventionen einer Demenzerkrankung vorbeugen oder deren Auftreten verzögern. Allerdings trägt ein verantwortungsbewusster Umgang mit der eigenen Gesundheit, insbesondere die
    Kontrolle der Blutdruck- und Blutzuckerwerte, positiv zur geistigen Leistungsfähigkeit bei.
  • Unterschieden werden muss zwischen kurzfristigen Verbesserungen einzelner
    Fertigkeiten und dem langfristigen Erhalt geistiger Fähigkeiten. Zur kurzfristigen
    Verbesserung zum Beispiel des Namensgedächtnisses stehen zahlreiche anerkannte Methoden zur Verfügung. Hingegen konnten derzeit erhältliche Produkte und Methoden bislang nicht nachweisen, dass sie den geistigen Leistungsabbau langfristig über mehrere Jahre oder Jahrzehnte vermindern können. Zur Überprüfung der langfristigen
    Wirksamkeit von Hirntrainingprogrammen sind umfangreiche Verlaufsstudien
    erforderlich.
  • Lernen regt das Gehirn an und steigert das Kompetenzerleben. Es gibt keine Hinweise darauf, dass hierfür ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Methode erforderlich ist. Bevor man Zeit und Geld für ein Hirnjogging-Produkt aufwendet, sollte man die "versteckten Kosten" in Rechnung stellen: Jede Stunde am Computer ist eine Stunde weniger, die man zum Beispiel mit Wandern, dem Lernen einer Fremdsprache, dem Ausprobieren eines neuen Kochrezepts oder dem Spielen mit Enkelkindern verbringen kann.
  • Körperliche Bewegung ist eine kostengünstige und wirksame Methode zur Verbesserung der Gesundheit. Darüber hinaus kann körperliche Bewegung auch zur Steigerung der Hirnfitness beitragen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass regelmäßiges körperliches Ausdauertraining die Hirndurchblutung steigert und die Bildung neuer Blutgefäße und Nervenzellverbindungen anregt. Körperliches Ausdauertraining steigert nachweislich Aufmerksamkeit, Denkvermögen und Gedächtnisleistung. Körperliches Training ist ein viel versprechender Ansatz zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Wir befürworten die Durchführung weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen in diesem Bereich.
  • Zur Redakteursansicht