Krankheitsgenen auf der Spur

Wissenschaftler identifizieren einen Gendefekt, der geistige Behinderung verursacht

1. Mai 2008

Erbliche Formen der geistigen Behinderung wurden bislang vor allem mit genetischen Defekten auf dem X-Chromosom in Verbindung gebracht. Bis heute konnten Wissenschaftler mehr als 80 Gene identifizieren, die auf dem X-Chromosom liegen und geistige Behinderung verursachen können, wenn sie irgendwelche Defekte aufweisen. Doch vermutlich können nur 10 Prozent aller Fälle von geistiger Behinderung durch solche X-chromosomalen Veränderungen erklärt werden. Den weitaus größeren Teil der Gene, deren Defekte zu Schäden bei höheren Hirnfunktionen führen können, vermuten Wissenschaftler auf den "Nicht-Geschlechts-Chromosomen", den sogenannten Autosomen. Forschern des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik gelang es jetzt zusammen mit Wissenschaftlern aus Teheran, durch Untersuchung einer großen iranischen Familie einen Gendefekt auf dem Chromosom 8 zu identifizieren, der geistige Behinderung nach sich zieht. (American Journal of Human Genetics, 1. Mai 2008).

Die Vererbung einer geistigen Behinderung ist in den meisten Fällen rezessiv: Nur wenn der Gendefekt sowohl auf dem vom Vater als auch auf dem von der Mutter stammenden Chromosom vorliegt, kann sich die Störung durchsetzen. Ein Sonderfall liegt bei den Geschlechtschromosomen vor; denn das von der Mutter stammende X-Chromosom trägt viele Gene, die kein entsprechendes Gegenstück auf dem vom Vater stammenden Y-Chromosom haben. Die Auswirkungen eines solchen Gendefekts treten daher bei Männern immer in Erscheinung, während sie bei Frauen in den meisten Fällen von der intakten Genkopie auf dem zweiten X-Chromosom aufgefangen werden.

Nicht an die Geschlechtschromosomen gebundene (autosomal) rezessiv vererbte Formen der geistigen Behinderung wurden bislang wenig untersucht. Sie kommen vor allem in Familien vor, deren Eltern blutsverwandt sind. Für die Untersuchung der entsprechenden Erkrankungen sind darüber hinaus Paare mit vielen Kindern bzw. mehreren betroffenen Kindern erforderlich. Da solche Familienstrukturen in den Industrieländern nur selten vorgefunden werden, wurden in der westlichen Hemisphäre bislang hauptsächlich die X chromosomal vererbten Formen kognitiver Störungen untersucht. Inzwischen gehen Wissenschaftler jedoch davon auch, dass nur 10 Prozent aller Fälle von geistiger Behinderung durch X chromosomale Veränderungen erklärt werden können. Das Gros der Mutationen mit schädlichen Auswirkungen auf die höheren Hirnfunktionen wird heute auf den Autosomen vermutet. Bislang sind allerdings nur vier Gene bekannt, die autosomal rezessiv vererbt werden und bei Mutation geistige Behinderung verursachen.

Die Wissenschaftler der Abteilung Molekulare Humangenetik am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin arbeiten daher seit mehr als fünf Jahren mit dem Genetic Research Center der Universität Teheran zusammen, um große Familien mit blutsverwandten Eltern zu untersuchen, in denen gehäuft Fälle von unspezifischer geistiger Behinderung aufgetreten sind. In einer dieser Familien fanden sie nun eine Mutation des Gens TUSC3, die zu dessen fast vollständigem Funktionsverlust führt. Die Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass die Veränderung des TUSC3-Gens tatsächlich die Ursache für die geistige Behinderung der untersuchten Patienten ist. Unterstützt wird ihre Schlussfolgerung durch den Befund einer französischen Gruppe von Wissenschaftlern, die in einer anderen Familie bei Patienten mit der gleichen Form von geistiger Behinderung ebenfalls eine Mutation in diesem Gen gefunden hat.

Unklar ist für die Forscher bislang, welche Funktion das TUSC3-Gen im Körper hat. Sie vermuten, dass das Gen bzw. das von ihm kodierte Protein ein bestimmtes Enzym beeinflusst, die Proteinphosphatase 1. Dieses Enzym spielt eine Rolle im Zusammenhang mit Lern- und Gedächtnisleistungen. "Wir nehmen daher an, dass ein Verlust von TUSC3 durch eine gestörte Enzymfunktion geistige Behinderung verursachen kann", erklärt Andreas Kuss, Leiter der Arbeitsgruppe, die die Untersuchungen durchgeführt hat. Die funktionelle Charakterisierung der bisher wenig bekannten Genprodukte steht im Fokus der weiteren Forschungsarbeiten, die für die klinisch orientierte Humangenetik von großer Bedeutung sind. Denn etwa zwei Prozent der Bevölkerung sind in Industrieländern von einer geistigen Behinderung betroffen. Doch die molekularen Grundlagen solcher Störungen aufzuklären, ist nicht nur aus medizinischer Sicht bedeutsam: "Unsere Arbeit trägt auch zu einem besseren Verständnis der funktionellen Zusammenhänge bei, welche die Voraussetzung für kognitive Leistungen des menschlichen Gehirns bilden", so der Humangenetiker.

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