Lernen nach dem Mehrheitsprinzip
Menschen und Schimpansen folgen bei der Weitergabe von Kultur der Mehrheit
Die Weitergabe kultureller Errungenschaften an die nächste Generation ist eine Schlüsselkomponente der menschlichen Evolution. Menschen übernehmen dabei vor allem solche Verhaltensweisen, die auch von vielen anderen Individuen praktiziert werden. Auch die nächsten lebenden Verwandten des Menschen, Schimpansen und Orang-Utans, geben traditionelles Verhalten und Kultur an ihre Nachfahren weiter. Ob und wie dieser Prozess dem des Menschen ähnelt, ist noch größtenteils unbekannt. Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik in Nijmegen haben nun herausgefunden, dass Schimpansen dazu neigen eher die Handlung zu kopieren, die von einer größeren Anzahl Individuen vorgemacht wird, als die am häufigsten ausgeführte Handlung. Zweijährige Kleinkinder richten sich sowohl nach der Anzahl der Individuen als auch nach der Häufigkeit. Für Orang-Utans spielt dagegen keines von beidem eine Rolle.
Bei vielen Tierarten lernen Individuen von ihren Artgenossen und geben somit Verhaltensweisen und -strategien innerhalb ihrer eigenen Gruppe und an die nächste Generation weiter. Auch Schimpansen und Orang-Utans, bei denen sich das Verhaltensrepertoire von Population zu Population unterscheidet, übernehmen Traditionen und Kultur von anderen. Daniel Haun, Yvonne Rekers und Michael Tomasello von den Max-Planck-Instituten für evolutionäre Anthropologie und Psycholinguistik haben in ihrer aktuellen Studie untersucht, wie Menschen, Schimpansen und Orang-Utans Wissen durch soziales Lernen weitergeben.
Zunächst haben die Forscher untersucht, ob Kinder und Menschenaffen sich das am häufigsten demonstrierte Verhalten aneignen oder ob sie das von den meisten Individuen demonstrierte kopieren. Zweijährige Kinder, Schimpansen und Orang-Utans konnten dabei eine Belohnung von einer aus drei farbigen Teilabschnitten bestehenden Apparatur erhalten, wenn sie einen Ball - wie zuvor vier „Vorspieler“ - in einen Abschnitt einwarfen. Einer der Vorspieler wählte dafür dreimal denselben Teilabschnitt, die drei anderen wählten je einmal einen anderen Abschnitt. Anschließend durften die Beobachter selbst einen Ball in einen der drei Teilabschnitte werfen. Das Ergebnis: Die meisten der Schimpansen und Kinder suchten den Teilabschnitt aus, den auch die Mehrheit gewählt hatte. Orang-Utans entschieden sich dagegen offenbar rein zufällig für einen Teilabschnitt.
Im zweiten Teil der Studie analysierten die Wissenschaftler, ob die Häufigkeit, mit der die Vorspieler einen Teilabschnitt auswählten, für die eigene Wahl ausschlaggebend war. Der Studienaufbau war ähnlich wie zuvor, mit einem Unterschied: Nur jeweils zwei Kinder, Schimpansen oder Orang-Utans demonstrierten die Aktion. Ein Vorspieler warf drei Bälle in einen der farbigen Teilabschnitte und erhielt dafür pro Ball eine Belohnung. Der zweite warf nur einen Ball in den anders farbigen Teilabschnitt und erhielt dafür eine Belohnung. Das Ergebnis: Schimpansen und Orang-Utans wählten anschließend offenbar zufällig einen Teilabschnitt, während sich die meisten Kinder für den Teilabschnitt entschieden, in den mehr Bälle geworfen wurden.
„Wenn sie ihrem sozialen Umfeld Informationen entnehmen, achten Schimpansen in erster Linie auf die Anzahl der Individuen, die eine Aktion demonstrieren, und weniger darauf, wie oft die Aktion demonstriert wurde. Kinder achten auf beides, Orang-Utans auf keins von beidem”, sagt Daniel Haun. Kinder und Schimpansen kopieren also das Verhalten der Mehrheit, während Orang-Utans dies nicht tun. Eine mögliche Erklärung: Im Gegensatz zu Menschen- und Schimpansengruppen leben Orang-Utans als Einzelgänger in losen Gruppengefügen zusammen. Soziales Lernen außerhalb der Mutter-Kind-Beziehung spielt daher bei ihnen möglicherweise eine kleinere Rolle.
SJ/HR