Immer mehr Kinder wachsen ohne Eltern und Großeltern auf

Aids-Waisen in Zimbabwe leiden unter Auflösung des traditionellen Familien-Netzwerks

28. März 2012

Die Zahl der HIV-Infektionen in Zimbabwe ist seit längerem rückläufig. Doch die Situation der Kinder, die einen oder beide Elternteile durch die Aids-Epidemie verloren haben, könnte sich in den kommenden Jahren noch verschlechtern. Das zeigt eine Simulation, mit der die Bevölkerungsentwicklung des afrikanischen Landes von 1980 bis 2050 modelliert wurde.

Den Begriff der „Waise“ gab es in Zimbabwe lange Zeit nicht. Hatte ein Kind beide Elternteile verloren, ging es in die Obhut von Verwandten über. Doch mit der Aids-Epidemie, die Anfang der 1980er-Jahre begann und einen der schlimmsten Verläufe weltweit nahm, hat sich das geändert. Schätzungen besagen, dass im Jahr 2006 elf Prozent der unter 18-Jährigen beide Elternteile verloren hatten. Gleichzeitig gibt es immer weniger Verwandte, die diese Kinder aufnehmen könnten, sodass sie tatsächlich zu „Waisen“ werden.

Emilio Zagheni vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock hat nun in einer Studie untersucht, inwieweit Halb- und Vollwaisen noch auf das verwandtschaftliche Netzwerk zurückgreifen können, das in Zimbabwe traditionell in Krisensituationen bereit stand. Dafür hat der Demograf die Entwicklung einer für Zimbabwe repräsentativen Bevölkerung in den Jahren 1980 bis 2050 modelliert – mit Hilfe einer Mikrosimulation: 50.000 Individuen waren darin einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, zu heiraten, zu sterben oder ein Kind zu bekommen. Gleichzeitig bekamen sie das Merkmal „HIV positiv“ beziehungsweise „HIV negativ“ zugewiesen, das wiederum die Wahrscheinlichkeit, zu sterben, erhöhte oder verringerte und auch Auswirkungen auf die Lebensdauer des Ehepartners oder der Kinder hatte.

Die Zahlen, die mit Hilfe dieser Simulation für die Vergangenheit und Gegenwart errechnet wurden, stimmen weitgehend mit den demografischen Schätzungen internationaler Organisationen überein. Zudem liefert die Simulation im Gegensatz zu den Standardtechniken zusätzliche Informationen über die Struktur des Familiennetzwerkes. Und die Zahlen, die sie für die Zukunft prognostiziert, zeigen ein bisher wenig beachtetes Problem auf: Zwar werden im Jahr 2020, so rechnete Zagheni aus, vermutlich nur noch sechs Prozent der unter 18-Jährigen Vollwaisen sein. Deren Schicksal aber könnte ungleich härter sein als das heutiger Waisen: Denn die Lücke, die die Aids-Epidemie in die demografische Struktur des Landes gerissen hat, betrifft dann nicht nur die Eltern-, sondern auch die Großeltern-Generation. So wird in den Jahren 2020 bis 2030 der Simulation zufolge bereits jede dritte Vollwaise (35 Prozent) nicht nur ohne Vater und Mutter, sondern auch ohne Großeltern auskommen müssen.

Da der Tradition gemäß aber auch andere Verwandte wie Onkel und Tanten für die Waisen sorgen und aufkommen, hat Emilio Zagheni einen Index für die so genannten Verwandtschaftsressourcen berechnet. Dabei wird jedes Familienmitglied seinem biologischen Verwandtschaftsgrad entsprechend gewichtet. Denn je enger die Verwandtschaft zwischen Kind und Pflegefamilie ist, desto besser ist es um die gesundheitliche Versorgung, die Bildung und die wirtschaftliche Situation des Kindes bestellt. Gemessen am Ausgangspunkt der Untersuchung vor Ausbruch der Aids-Epidemie (1980=100) geht dieser Index bis 2015 um über 40 Punkte zurück. Das System des Familiennetzwerkes, das bisher dafür sorgte, dass Kinder nicht nur durch die Eltern, sondern auch durch nahe Verwandte versorgt und aufgezogen werden konnten, steht durch die Dezimierung der Familien also stark unter Druck. Dass mittlerweile einige Haushalte von älteren Geschwistern geführt werden, gilt als erstes Anzeichen für den Zusammenbruch des traditionellen Netzwerkes. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, den hier vorgestellten Index über die Verfügbarkeit von Verwandten auch in die Statistik internationaler Behörden aufzunehmen und in der Entwicklungshilfe zu berücksichtigen. Dabei könnten die Ergebnisse in ähnlicher Form auch auf andere afrikanische Länder südlich der Sahara übertragen werden, die ebenfalls mit den Folgen der Aids-Epidemie zu kämpfen haben.

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