Ein Spaziergang durch das alte Pompeji

EU-Projekt Cyberwalk entwickelt eine weltweit einzigartige Plattform für die Erkundung virtueller Welten

11. April 2008

Wie wäre es wohl, wenn Sie durch das historische Pompeji spazieren könnten, so wie es war bevor der Vesuv ausbrach? Eine faszinierende Vorstellung, die Forscher des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen jetzt Wirklichkeit werden lassen. Gemeinsam mit ihren Kollegen von der Technischen Universität München, der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich sowie der Universität Rom haben sie eine Laufplattform entwickelt, auf der sich Menschen ungehindert in virtuellen Welten bewegen können: Der Cybercarpet ist das Ergebnis eines dreijährigen, von der Europäischen Kommission im Bereich zukunftsweisende Technologien geförderten Projekts, das die Wissenschaftler im Rahmen einer Pressekonferenz am 17. April 2008 in Tübingen vorstellen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat es enorme Fortschritte im Bereich von Virtual Reality gegeben. Virtuelle Umgebungen können heute mit photorealistischen Grafiken, Hifi-Sound und sogar haptischen Erfahrungsmöglichkeiten wiedergeben werden. Nicht möglich war es bisher jedoch, sich in diesen virtuellen Welten ungehindert in alle Richtungen zu bewegen. In der Regel konnten die Nutzer per Maus oder Joystick durch diese Umgebungen navigieren oder mit einer Monitorbrille ausgestattet in einer Richtung auf einem Laufband marschieren. Das entspricht aber überhaupt nicht der natürlichen Art und Weise, wie wir uns in Städten oder Gebäuden bewegen und orientieren. Umgekehrt sind Virtuelle Welten eine geeignete Methode, um genau dieses Navigieren des Menschen unter quasi-natürlichen Bedingungen zu untersuchen. Für die Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen beginnt deshalb die Arbeit auch erst jetzt.

Mit dem Cybercarpet steht ihnen die weltweit erste wirklich nutzbare sogenannte omnidirektionale Plattform zur Verfügung, auf der man ungehindert in jede Richtung durch virtuelle Umgebungen laufen kann. Die Konstruktion der Plattform lag in Händen von Forschern des Instituts für angewandte Mechanik der TU München. Sie fanden eine Reihe neuer mechanischer Lösungen für einen gleichmäßigen und sicheren Betrieb des Cybercarpets, der wie die überdimensionierte Kette eines Raupenbaggers aussieht. Dabei bestehen die Glieder dieser Kette aus einzelnen Laufbändern, die sich zusätzlich senkrecht zur Bewegungsrichtung der Raupenkette bewegen. Vorwärts-, Rückwärts- und Seitwärtsbewegungen ergeben in der Summe ein Fließband, dessen Fläche sich nun in alle Richtungen bewegt. Damit sich das Laufen auf der Plattform auch natürlich anfühlt, haben Wissenschaftler der Universität Rom einen Kontrollalgorithmus entwickelt, der die Reaktion des Laufbandes in Abhängigkeit vom Verhalten des Nutzers steuert. Die Beschleunigungen, denen der Nutzer ausgesetzt wird, sollen so gering wie möglich sein und ein normales Gehen zulassen. Maßgeblich für die Entwicklung dieses Algorithmus waren Ergebnisse aus Wahrnehmungsexperimenten am Tübinger Max-Planck-Institut. Theoretische Modelle für eine optimale Kontrolle der Plattform stammen von Informatikern der TU München - am Lehrstuhl für Steuerungs- und Reglungstechnik hat man bereits umfangreiche Erfahrung bei der Steuerung komplexer Robotersysteme gesammelt.

Damit die Versuchsperson nicht nach wenigen Schritten über den Rand der Plattform abstürzt, muss der Kontrollalgorithmus wissen, wo sich die Person auf der Plattform befindet. Dazu entwarfen Wissenschaftler der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich vom Institut für Bildverarbeitung ein Tracking-System. Dabei registrieren mehrere im Raum positionierte Kameras die Bewegung der Versuchsperson. Sie sind an ein Analyseprogramm gekoppelt, das nicht nur die Position der Probanden, sondern auch ihre Gesten bzw. Körperhaltung erkennt. Diese werden in Sekundenschnelle aufgezeichnet und analysiert. So kann der Rechner beispielsweise erkennen, wenn der Proband die Klinke einer virtuellen Tür betätigt.

Und die Welt, die sich dahinter verbirgt? Die stammt aus den Labors der Computer Vision Group der ETH Zürich. Die Forscher befragten Archäologen, besuchten die Ausgrabungsstätten in Italien und werteten Zeichnungen und Fotos aus, um ein möglichst realistisches Bild vom alten Pompeji 79 vor Christus und damit vor Ausbruch des Vesuvs zu entwerfen. Mit Hilfe ihrer Visualisierungssoftware können aber genauso gut futuristische Metropolen oder andere Umgebungen erzeugt werden. Möglich also, dass diese neue Laufplattform irgendwann einmal auch dazu dient, das Training von Sportlern zu unterstützen oder virtuelle Übungen zu gefährlichen Feuerwehreinsätzen zu ermöglichen. "Aber auch andere Einsatzmöglichkeiten sind durchaus denkbar", so Marc Ernst, der Leiter des EU-Projekts. "Zum Beispiel in der Medizin für die Rehabilitation von motorischen Störungen oder zur Unterstützung von Städteplanern und Architekten, die mit ihren Kunden die virtuellen Bauten schon einmal vorab begehen möchten."

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