Eine Art, viele Genome
Anpassung an die Umwelt hat einen stärkeren Einfluss auf das pflanzliche Erbgut als angenommen
Größerer Wuchs, dunklere Blätter, eine andere Art der Verzweigung - die in verschiedenen Klimazonen wachsenden Sorten der Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana unterscheiden sich zum Teil deutlich von der bekannten Laborpflanze. Welche genetischen Besonderheiten Pflanzen vom Polarkreis oder aus den Subtropen, aus Amerika, Afrika oder Asien aufweisen, haben Forschergruppen aus Tübingen und Kalifornien unter Leitung von Detlef Weigel nun erstmals detailliert untersucht - mit verblüffendem Ergebnis. Denn das Ausmaß der genetischen Unterschiede übersteigt die Erwartungen der Wissenschaftler deutlich, wie sie jetzt in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Science schreiben.
Um den Variationen im Erbgut verschiedener Arabidopsis-Sorten auf die Spur zu kommen, verglichen die Wissenschaftler das Erbgut von 19 wildlebenden Populationen mit dem im Jahr 2000 sequenzierten Genom eines Laborstamms. Dabei nahmen sie in einem äußerst aufwändigen Verfahren jeden einzelnen der rund 120 Millionen Bausteine unter die Lupe, aus denen das Arabidopsis-Genom aufgebaut ist. Als molekulare Spürhunde verwendeten sie rund eine Milliarde speziell hergestellter, kurzer Erbgutsonden. "Zusammengesetzt wären diese Sonden siebenmal so lang wie das gesamte menschliche Erbgut", veranschaulicht Detlef Weigel, Direktor am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen, die Dimension dieses Projekts. Die Daten wurden mithilfe verschiedener speziell für das Projekt entwickelter statistischer Verfahren ausgewertet, darunter auch einer Variante des maschinellen Lernens.
Das Ergebnis der Fleißarbeit: Ungefähr einer von 180 DNA-Buchstaben erwies sich als variabel. Rund vier Prozent des Referenzgenoms fanden sich bei den Wildstämmen nur in stark veränderter Form oder gar nicht wieder. Und fast jedes zehnte Gen wies in mindestens einer der 19 untersuchten Wildpflanzen so starke Defekte auf, dass es seiner normalen Funktion nicht mehr ausüben kann.
Ergebnisse wie diese werfen grundlegende Fragen auf. Insbesondere relativieren sie den Wert der bisher sequenzierten Modellgenome. "Das Genom gibt es nicht", sagt Weigel. Die DNA-Sequenz eines Individuums reiche bei Weitem nicht aus, um eine ganze Art umfassend zu verstehen. Auch in der Humanmedizin hat sich diese Erkenntnis bereits durchgesetzt, und es werden derzeit große Anstrengungen unternommen, um das Erbgut möglichst vieler verschiedener Menschen zu sequenzieren und zu analysieren.
Dass gerade die Ackerschmalwand zu den Arten mit äußerst variablem Erbgut zählt, erstaunt dennoch. Denn im Gegensatz zum Erbgut des Menschen oder vieler Ackerpflanzen wie dem Mais, die viele Wiederholungen und scheinbar bedeutungslose Füllsequenzen enthalten, ist das Arabidopsis-Genom äußerst kompakt aufgebaut: Bei ungefähr gleicher Anzahl von Genen ist es rund 24-mal kleiner als das Humangenom. "Dass selbst bei einem derart windschnittigen Genom fast jedes zehnte Gen entbehrlich ist, hat uns überrascht", gesteht Weigel.
Detailliertere Analysen ergaben, dass Gene, die grundlegende Zellfunktionen wie die Proteinherstellung oder die Genregulation betreffen, nur selten starke Unterschiede aufweisen. Dagegen erfahren Gene, die für die Interaktion der Pflanze mit ihrer biologischen Umwelt verantwortlich sind - etwa bei der Abwehr von Schädlingen und Infektionen - überproportional häufig eine schwerwiegende Veränderung. "Die genetische Variabilität scheint tatsächlich die Anpassung an regionale Wachstumsbedingungen und lokale Besonderheiten widerzuspiegeln", erläutert Weigel. Vermutlich seien einige der betreffenden Gene auch dafür verantwortlich, der Pflanze ein Leben an besonders trockenen oder feuchten, heißen oder kühlen Standorten oder in Gegenden mit kürzerer oder längerer Vegetationsperiode zu ermöglichen.
Die aufwändigen Untersuchungen des Tübinger Molekularbiologen könnten hier zu einem besseren Verständnis beitragen. Für Weigel war dies einer der wichtigsten Beweggründe für die Studie. "Durch Ausweitung unserer Arbeiten auf andere Arten erhoffen wir uns Erkenntnisse, wie man Nutzpflanzen züchten kann, die besonders gut an wechselnde Wachstumsbedingungen angepasst sind", erklärt er. Gerade angesichts eines sich rasch verändernden Weltklimas sei die Beantwortung dieser Frage von größter Bedeutung. So kooperieren die Max-Planck-Forscher bereits mit dem Internationalen Reisforschungsinstitut auf den Philippinen, um die Methoden und Erfahrungen, die bei der Arbeit mit Arabidopsis gesammelt wurden, auf zwanzig verschiedene Reissorten anzuwenden.
Wie Umwelt und Genom interagieren, wollen die Tübinger Forscher in Zukunft mit noch leistungsfähigeren Methoden untersuchen. Während das bisher angewandte Verfahren nur diejenigen Gene aufzeigt, die sich im Vergleich zum Referenzgenom verändert haben oder verloren gegangen sind, ließe sich durch die direkte Sequenzierung von Wildpflanzen-DNA auch neu hinzugekommenes Erbmaterial identifizieren. Zu diesem Zweck möchten Weigel und seine Kollegen das Erbgut von 1001 Arabidopsis-Sorten "durchbuchstabieren". Ein neues Gerät, mit dem sich das Genom einer Pflanze innerhalb weniger Tage sequenzieren lässt, steht bereits parat. Nun müssen nur noch entsprechende Computerprogramme für die Interpretation dieser Datenflut entwickelt werden.
An der Studie beteiligte Forscher und Institute: Detlef Weigel, Richard Clark, Stephan Ossowski und Norman Warthmann vom MPI für Entwicklungsbiologie, Tübingen; Georg Zeller und Gunnar Rätsch vom Friedrich-Miescher-Labor der Max-Planck-Gesellschaft, Tübingen; Gabriele Schweikert und Bernhard Schölkopf vom MPI für Biologische Kybernetik, Tübingen; Daniel Huson vom Institut für Bioinformatik der Universität Tübingen; Huaming Chen, Paul Shinn und Joseph Ecker vom Salk Institute in La Jolla, Kalifornien; Christopher Toomajian, Tina Hu und Magnus Nordborg von der University of Southern California in Los Angeles; Glenn Fu, David Hinds und Kelly Frazer von Perlegen Sciences Inc, Mountain View, Kalifornien.