Prothesen für das Hören und Handeln

Der Zülchpreis 2007 geht an die beiden Neurowissenschaftler Graeme M. Clark und John P. Donoghue

20. August 2007

Graeme M. Clark von der University of Melbourne, Australien, und John P. Donoghue von der Brown University in Providence, USA, sind die Träger des mit 50.000 Euro dotierten Zülchpreises, den die Gertrud Reemtsma Stiftung für besondere Leistungen in der neurologischen Grundlagenforschung vergibt. Geehrt werden zwei international herausragende Wissenschaftler für ihre Untersuchungen auf dem Gebiet der Neuroprothetik - einer Arbeitsrichtung, die sich zum Ziel gesetzt hat, Funktionsausfälle des menschlichen Nervensystems mit technischen Systemen zu kompensieren. Die Preisverleihung findet am 31. August im Kölner Gürzenich statt.

Prof. Dr. Graeme M. Clark vom Centre for Clinical Neuroscience and Neurological Research am St.Vincents Hospital der University of Melbourne (Australien) erhält die Auszeichnung in Anerkennung seiner bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der Cochlea-Implantate zur Versorgung gehörloser Patienten; bei diesen Implantaten handelt es sich um die ersten Neuroprothesen, die beim Menschen zum Einsatz kamen. Der Neurowissenschaftler Prof. Dr. John P. Donoghue, Direktor des Brain Science Program am Department of Neuroscience der Brown University in Providence (USA) wird ausgezeichnet für seine Forschungen zu der Frage, wie das Gehirn Gedanken in Handlungen umsetzt; die Aufklärung dieses Problems war Voraussetzung für die von ihm betriebene Entwicklung neuronaler Prothesen, die als Interface zwischen Gehirn und Maschine eingesetzt werden und gelähmte Patienten in die Lage versetzen sollen, Maschinen nur mit dem Willen zu steuern.

Prof. Graeme M. Clark, 1935 in Camden, New South Wales, geboren, studierte in Australien und England Medizin, spezialisierte sich auf den Gebieten Allgemeine Chirurgie und Pathologie sowie später Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und schloss das Studium 1968 an der Universität Sydney mit dem Master in Chirurgie ab. Im Jahr 1969 wurde er mit einer Arbeit über neuronale Mechanismen des Hörens zum Dr. phil. promoviert. Im darauffolgenden Jahr berief ihn die Universität Melbourne zum Professor und Leiter des Departments für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Hier etablierte er sein erstes Cochlear Implant Program. 14 Jahre später gründete er das Bionic Ear Institute Australia und 1985 die Cochlear Implant Clinic am Eye & Ear Hospital.

Zwischen 1971 und 2002 war Clark Chiefinvestigator in 17 nationalen australischen Forschungsprojekten, die sich mit der elektrischen Stimulation des inneren Ohres und mit Chochlea-Prothesen für Gehörlose befassten. Clark ist mehrfacher Ehrendoktor, darunter seit 1988 an der Medizinischen Hochschule Hannover, Träger vieler nationaler und internationaler Auszeichnungen sowie unter anderem Mitglied der Royal Society London und der Australian Academy of Science.

Dass sich Graeme M. Clark schon früh als Forschungsgebiet die Gehörlosigkeit aussuchte, ist sicher mit auf die Taubheit seines Vaters zurückzuführen. Im Lauf seiner Untersuchungen gewann Clark die Überzeugung, das Hören von Sprache müsse sich wiederherstellen lassen, wenn es gelänge, das zerstörte oder nicht entwickelte innere Ohr zu umgehen und die Hörnerven direkt elektrisch zu stimulieren. Ausgehend von tierexperimentellen Untersuchungen erkannte Clark, dass für die Übermittlung sprachrelevanter Schallfrequenzen mehrere Elektroden erforderlich sind, um die verschiedenen Frequenzregionen der Cochlea - der Schnecke des Innenohres - zu aktivieren.

Dafür musste man implantierbare Multikanal-Elektroden entwickeln, die von Sprachprozessoren gesteuert werden, welche die für das Sprachverstehen relevanten Schallfrequenzen in elektrische Impulse umwandeln. Wie man solche Elektrodenbündel zu der Frequenzregion führen kann, ohne die Cochlea zu verletzen, hatte Clark zuvor an Seemuscheln geübt. Und er hatte sich auch vergewissert, dass der Eingriff nicht gerade zum Verlust der Fasern jener Hörnerven führt, die man zu stimulieren hoffte.

Im Jahr 1978 gelang es Graeme M. Clark erstmals, mit einem solchen Implantat das Sprachverstehen eines ertaubten Erwachsenen wiederherzustellen. Und seit 1985 werden auch taub geborene Kinder mit Cochlea-Implantaten versorgt, um ihnen das Hören und damit die aktive Generierung von Sprache zu ermöglichen. Inzwischen tragen weltweit bis zu 200.000 gehörlose Patienten Cochlea-Implantate - und viele von ihnen können mit diesen Neuroprothesen ein weitgehend normales Leben führen.

Prof. John P. Donoghue, 1949 geboren, studierte an den Universitäten von Boston (1971 Bachelor im Fach Biologie) und Vermont (1976 Master of Science im Fach Anatomie) und wurde 1979 an der Brown University in Providence mit einer Arbeit auf dem Gebiet der Neurowissenschaften promoviert. Anschließend arbeitete er als Postdoc am Department für Anatomie der Michigan State University (1979 bis 1980) und als NIH-Fellow am Labor für Neurophysiologie in Bethesda (1980 bis 1984).

Seit 1984 ist Donoghue an der Brown University in Providence tätig - als Assistant und später Associate Professor am Center for Neural Science sowie seit 1991 als Professor am Department of Neuroscience, das er bis 2006 leitete. Außerdem ist er seit 1998 Direktor des Brain Science Program an dieser Universität. Im Jahr 2001 war er Mitbegründer der Firma Cybernetics Neurotechnology Systems in Foxborough, Massachusetts. Donoghue, unter anderem Mitglied der New York Academy of Science, hat viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten - etwa 2002 den Javits Neuroscience Investigator Award der National Institutes of Health. Im Jahr 2004 wählte ihn das Wissenschafts-Magazin Discover zum Forscher des Jahres.

John P. Donoghue beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit der Frage, wie das Gehirn Gedanken in Handlungen umsetzt. Unter Einsatz von Multielektroden-Chips, die in die motorische Hirnrinde von Primaten implantiert wurden, konnte er die elektrischen Impulse multipler Nervenzellen über lange Zeiträume simultan registrieren. Aus der Korrelation der Aktivitätsmuster mit motorischen Handlungen gelang es ihm, die neuronale Kodierung der Handlungsabläufe zu entschlüsseln und durch Dekodierung dieser Signale willensabhängige Handlungen auf Maschinen zu übertragen. Die Richtigkeit dieses Konzepts konnte im Tierversuch nachgewiesen werden. Für die klinische Umsetzung wurden Hirn-Maschinen-Schnittstellen ("BrainGates") entwickelt, die ins Hirn gelähmter Patienten implantiert werden können und ihnen die Möglichkeit eröffnen sollen, Computer, Roboterarme oder sogar gelähmte Gliedmaßen über die Aktivität des eigenen Gehirns zu steuern.

Das BrainGate, eine von der Firma Cybernetics entwickelte Neuroprothese, besteht aus einem vier Millimeter im Quadrat großen elektronischen Chip, der 100 haarfeine Elektroden enthält und im Motorcortex implantiert wird - jenem Teil der Großhirnrinde, in dem durch Reize Bewegungen bestimmter Muskeln ausgelöst werden. Die Elektroden des Chips registrieren die elektrische Aktivität der Cortexzellen, die sich aufbaut, sobald der Wille vorliegt, eine gewisse Handlung zu initiieren. So ruft etwa die Absicht, die rechte Hand zu öffnen, ein für diesen Wunsch charakteristisches Aktivitätsmuster der Neuronen hervor. Dieses Muster wird von den Elektroden ausgelesen, decodiert und von einer Signal Processing Unit über Leitungen an eine rechtsseitige Armprothese weitergegeben. Ergebnis: Der Patient, obwohl völlig gelähmt, öffnet die Hand dieses künstlichen Arms.

Das System wurde erstmals im Sommer 2006 an einem 25-jährigen Patienten erprobt, der seit einer fünf Jahre zurückliegenden Messerattacke vom Hals an gelähmt war. Ihm gelang es mit dem System, allein durch Nachdenken über die für bestimmte Bewegungen relevanten Aktionen, den Cursor über den Bildschirm eines Computers zu lenken und damit etwa E-Mails abzurufen. Der Patient konnte den Fernseher einschalten und die Programme auswählen. Und er war in der Lage, Computerspiele zu spielen. Nach einigem Training vermochte er auch die Hand seiner Prothese zu öffnen oder zu schließen und auf diese Weise Objekte zu greifen und zu bewegen. Diese spektakulären Ergebnisse einer Übertragung willensabhängiger Handlungen vom Menschen auf Maschinen wurden im Juli 2006 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Inzwischen arbeiten John P. Donoghue und sein Team an Verfeinerungen des BrainGate- Systems. Ihr langfristiges Ziel ist es, eine Hirn-Computer-Schnittstelle zu entwickeln, die es Gelähmten ermöglicht, wieder ihre eigenen Gliedmaßen zu bewegen.

Die Gertrud Reemtsma Stiftung, die von der Max-Planck-Gesellschaft treuhänderisch geführt wird, vergibt den mit 50.000 Euro dotierten Zülchpreis in diesem Jahr zum 18. Mal. Wie in den vergangenen Jahren wird er auch diesmal wieder geteilt. Die Preisübergabe durch Herbert Jäckle, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, findet am Freitag, den 31. August 2007 um 10 Uhr im Isabellensaal des Kölner Gürzenich statt. Die Laudatio auf Graeme M. Clark hält Roland Laszig, Direktor der Hals-, Nasen- und Ohrenklinik der Universität Freiburg. Laudator für John Donoghue ist Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt.

Die Gertrud Reemtsma Stiftung wurde 1989 von Gertrud Reemtsma in Gedenken an ihren verstorbenen Bruder, den Neurologen Klaus Joachim Zülch, ehemaliger Direktor der Kölner Abteilung für Neurologie des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Frankfurt, mit dem Ziel gegründet, die Erinnerung an das Lebenswerk ihres Bruders wach zu halten und besondere Leistungen in der neurologischen Grundlagenforschung anzuerkennen und zu fördern. Gertrud Reemtsma war schon Ende der 1930er-Jahre mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch in Verbindung gekommen: Klaus Joachim Zülch, der dort als Neuropathologe und Neurologe mit dem Begründer der deutschen Neurochirurgie, Wilhelm Tönnis, zusammenarbeitete, holte seine Schwester als Sekretärin an das Institut. Nach dem Krieg war Gertrud Reemtsma eine große Förderin der Max-Planck-Gesellschaft - und zwar nicht nur seit 1964 als Förderndes Mitglied, sondern auch über finanzielle Zuwendungen für die von ihrem Bruder geleitete Kölner Forschungsabteilung. Anfang 1996 verstarb sie im 80. Lebensjahr in Hamburg.

Zur Redakteursansicht