Auf der Suche nach dem verlorenen Klang

Moderne Materialwissenschaft lüftet ein Geheimnis barocker Orgelbaukunst

19. Oktober 2007

Das grundlegende Wissen barocker Orgelbaukunst geriet im 19. und 20. Jahrhundert in Vergessenheit. Im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Forschungsprojekts "Truesound" machten sich Grundlagenforscher und Orgelbaumeister aus neun europäischen Ländern auf die Suche nach dem verlorenen Wissen. Ziel war, die kommerziell nicht verfügbaren Messinglegierungen, wie sie in historischen Zungen und Kehlen von Zungenpfeifen verwendet wurden, zu entschlüsseln und wieder herzustellen.

Brigitte Baretzky aus der Abteilung "Moderne magnetische Materialien", die von Gisela Schütz am Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart geleitet wird, koordinierte das Forschungsvorhaben zwischen 2004 und 2006. Unter ihrer Leitung analysierten die Materialforscher mit modernsten wissenschaftlichen Methoden und hochsensiblen Instrumenten Dutzende von jahrhundertealten Proben aus ganz Europa.

Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen stehen den Orgelbauern heute zwei verschiedene, qualitativ hochwertige und in Hinblick auf Handhabbarkeit und Klangqualität authentische Messinglegierungen zur Verfügung. "Truesound" ist damit ein herausragendes Beispiel für direkten Wissenstransfer sowie erfolgreiche europäische und interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Forschung für die Praxis

Das Faszinierende an diesem Projekt war die unmittelbare Zusammenarbeit von Experten aus Wissenschaft und Praxis - über europäische Grenzen hinweg. Im Forschungsverbund machten sich die Mitarbeiter von insgesamt vier Forschungseinrichtungen aus Göteborg (Schweden), Ancona (Italien) und Stuttgart zusammen mit fünf Orgelbauern aus Italien, Schweden, den Niederlanden, Lettland und Litauen auf die Suche nach dem verlorenen Klang.

Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mussten die Beteiligten "eine gemeinsame Sprache" finden. Das ist ihnen in der zweijährigen Laufzeit gut gelungen. So lernten die Grundlagenforscher von den Orgelbaumeistern die wesentlichen Merkmale hoher Orgelbaukunst. Inzwischen profitieren die Handwerker von den wissenschaftlichen Ergebnissen des Projekts. Damit ist "Truesound" ein gutes Beispiel für eine direkte und erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und dem Mittelstand.

Die Herausforderung: moderne Materialforschung an historischen Proben

Zur Grundausstattung jeder Kirchenorgel gehören Lippenpfeifen, die ähnlich wie Flöten funktionieren. Zungenpfeifenregister hingegen erhöhen die Ausdrucksvielfalt und -stärke einer Orgel. In der Zungenpfeife versetzt der Luftstrom (= Wind) ein wenige Zehntel Millimeter dünnes Messingblättchen in Schwingungen: die sogenannte Zunge. Ähnlich wie in einer Klarinette schwingt sie über einer Messingrinne, der Kehle, und erzeugt so den Ton. Dieser wird durch einen Resonator, auch Becher genannt, verstärkt.

Der Klang einer Zungenpfeife wird von den mechanischen Eigenschaften der Zunge geprägt, welche wiederum von der Mikrostruktur und Zusammensetzung des Materials abhängen.

Die "Truesound"-Proben stammten von Orgeln, die zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert in verschiedenen Teilen Europas gebaut wurden. Deshalb mussten die Forscher äußerst vorsichtig vorgehen, um die historischen Zungen und Kehlen nicht zu beschädigen. Sowohl mit der altbewährten Lichtmikroskopie als auch mit umfassenden Untersuchungsmethoden mittels Röntgen-, Neutronen-, Elektronen- und Ionenstrahlung analysierten die Materialforscher die historischen Proben hinsichtlich Zusammensetzung und Gefüge. Die Ergebnisse lieferten wichtige Erkenntnisse über den Herstellungs- und Bearbeitungsprozess.

Der Zusammensetzung von Messinglegierungen auf der Spur

Die Hauptbestandteile der Messing-Zungen und -Kehlen sind Kupfer und Zink. Bei manchen Zungen kommt noch eine erhebliche Menge Blei vor. Erstaunlicherweise tritt die Zinkkonzentration innerhalb von zwei Zeitabschnitten mit jeweils einem relativ konstanten Wert auf.

So lag dieser zwischen 1624 und 1790 bei etwa 26 Gewichtsprozenten und ab 1750 bis heute bei etwa 32,5 Gewichtsprozenten. Die Bleikonzentration verringerte sich langsam von sieben bis acht Gewichtsprozent im Jahre 1624 bis auf etwa zwei Gewichtsprozent in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die ersten bleifreien Zungen tauchten um 1750 auf und in den Proben ab 1820 findet man überhaupt kein Blei mehr. Dieser stufenförmige Verlauf der Gewichtsanteile ist Folge der verschiedenen Herstellungsmethoden von Messing.

Neue Materialien nach altbewährter Tradition

Aufgrund dieser und weiterer Untersuchungsergebnisse konnten die Forscher die relevanten Prozessschritte wie Gießen, Formen, Hämmern, Walzen, Feilen und Ausheizen für die originalgetreue Herstellung von Messingzungen bestimmen. Den Orgelbauern stehen nun zwei verschiedene, authentische Messinglegierungen zur Verfügung. Eine mit etwa 25 Gewichtsprozenten Zink und zwei Gewichtsprozenten Blei (für Orgeln aus dem 17. bis 18. Jahrhundert) sowie eine ohne Blei mit höherem Zinkgehalt von etwa 33 Gewichtsprozenten für Orgeln aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Diese neuen Legierungen entsprechen den Vorstellungen der Orgelbauer in Hinblick auf Handhabbarkeit und Klangqualität. Sie sind bereits bei Restaurierungen und Nachbauten im Stile von Barockorgeln zum Einsatz gekommen.

Die Untersuchungen wurden im Rahmen des Craft-Projekts "Truesound" von der Europäischen Union gefördert (Vertrag COOP-CT-2004-005876).

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