Auf der Tanzfläche der Moleküle

Gerhard Ertl klärte die chemischen Prozesse auf, die sich auf festen Metalloberflächen abspielen

10. Oktober 2007

Auch die Chemie braucht eine Bühne, um ihr Kunststückchen zu präsentieren. Nur bedeuten für Atome und Moleküle nicht Bretter die Welt, sondern Metalle, Keramiken und Silikate. Auf den Oberflächen dieser Stoffe führen die kleinen Teilchen ihre Dramen auf, die den Stoff für jede Seifenoper liefern könnte: Moleküle brechen auseinander und gruppieren sich um oder Atome verlassen ihre Partner und suchen sich andere. Um nichts anderes geht es bei den meisten chemischen Reaktionen. So dicht wie Gerhard Ertl Ende der 1960er-Jahre war zuvor kein Chemiker an diesem Geschehen. Und er öffnete Chemikern aus aller Welt den Vorhang zur Bühne, auf der die molekularen Dramen spielen.

Gerhard Ertl erkannte als erster das Potenzial von Vakuumtechniken, die in den 1960er-Jahren aufkamen. Erst sie sorgen dafür, dass keine Verunreinigungen das Spiel der Moleküle stören. Solche Stoffe sind in der Luft allgegenwärtig. Sie verwirren die Chemiker, die das Spiel beobachten, so dass sie nicht wissen, was zum Stück gehört und wo sich die Störenfriede bemerkbar machen. Vakuum, wie es Gerhard Ertl in seinen Apparaturen erzeugt, lässt den Störenfrieden keinen Platz mehr im Theater.

Wie das Haber-Bosch-Verfahren effektiver funktioniert

Zudem nutzte Ertl schon den 1970er-Jahren sehr geschickt alle verfügbaren Methoden der Spektroskopie, um chemische Prozesse auf Metalloberflächen zu studieren: etwa die Reaktion von Stickstoff mit Wasserstoff zu Ammoniak. Diese Synthese, mit deren Hilfe Chemiker aus dem Stickstoff der Luft auch Kunstdünger herstellen, war seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts als Haber-Bosch-Verfahren bekannt. Ohne dieses Verfahren gäbe es keinen Kunstdünger, aber vermutlich selbst in Europa heute noch Hungersnöte. Fritz Haber und Carl Bosch machten die Reaktion im industriellen Stil möglich, weil sie die Reaktionspartner auf einer Eisenoberfläche zusammenbrachten. Doch wie die Reaktion genau abläuft und wie sie sich noch effizienter gestalten lässt, fand erst Gerhard Ertl heraus. Er bestätigte zunächst, dass die Reaktion gleich zu Anfang ein chemisches Nadelöhr passieren muss. Wenn sich nämlich die Stickstoffmoleküle an der Eisenoberfläche in zwei Atome aufspalten und eine lockere Bindung mit den Eisenatomen eingehen. Da dieser Reaktionsschritt der langsamste ist, bestimmte er die Effizienz des gesamten Prozesses. Der Umkehrschluss liegt also nahe: Ließe sich die Spaltung der Stickstoff-Moleküle beschleunigen, liefe der gesamt Prozess schneller ab.

Genau das taten Chemiker, indem sie die Eisenoberfläche mit Kalium beschichten. Das Alkalimetall gibt seine Elektronen gerne an das Eisen ab. Elektronen aber sind die Währung, mit der in chemischen Reaktionen gezahlt wird. Kalium bessert also die Kasse auf, aus der das Eisen die Mitgift für die Stickstoffatome zahlt. So kann es den beiden Atomen eines Stickstoffmoleküls mehr Elektronen bieten, um sich voneinander zu trennen und stattdessen mit ihm selber eine zumindest vorübergehende Bindung einzugehen. Aus dieser Bindung heraus lassen sich die Stickstoffatome von Wasserstoff-Atomen wiederum relativ leicht lösen, so dass sich in einigen weiteren Schritten Ammoniak bildet. Auch diese Schritte der Reaktion untersuchte Ertl genau und bestimmte etwa, wie sich die beteiligten Atome auf der Oberfläche anordnen, und mit welche energetischen Hürden die die Reaktionspartner dabei nehmen müssen.

Große Bedeutung für technische Prozesse

Ertl hat einen wichtigen Beitrag geleistet, um bestimmte technisch wichtige Reaktionen besser verstehen und effizienter gestalten zu können. Er hat aber vor allem prinzipiell gezeigt, wie Chemiker die sich ständig erweiternde Palette spektroskopischer Techniken - Anfang der 1960er-Jahre waren es etwa die Photoelektronenspektroskopie oder die Elektronenbeugung - aber auch theoretische Untersuchungen nutzen lassen, um die Vorgänge an Oberflächen aufzuklären. Und er bewies, dass sich die Erkenntnisse, die er unter idealen Bedingungen im Labor gewonnen hatte, auch auf chemische Prozesse übertragen lassen, die technisch wichtig sind.

Dazu zählen generell alle Reaktionen, die in einer heterogenen Katalyse ablaufen. Ein Katalysator bietet Reaktionspartnern eine chemische Starthilfe - er setzt die Aktivierungsenergie der Reaktion herab. Er senkt also die energetische Hürde, die zwei Stoffe nehmen müssen, um sich verbinden zu können. Diesen energetischen Schubs gibt in einem Feuerzeug etwa ein Funke des Feuersteins. Die chemische Industrie müsste in viele Prozesse sehr viel Energie stecken, um sie anzuschieben - gäbe es nicht die chemische Starthilfe des Katalysators.

Eine hervorragende Bühne für chemische Reaktionen

Besonders gerne mag die Industrie heterogene Katalysatoren. Das sind meist Feststoffe, an denen flüssige oder gasförmige Substanzen miteinander reagieren. Im Gegensatz zum homogenen Katalysator, der wie die Reaktionspartner flüssig oder gasförmig vorliegt und sich mit diesem mischen, muss der heterogene Katalysator nicht aufwendig abgetrennt werden: Die Reaktionspartner tanzen wie im Haber-Bosch Verfahren einfach über ihn, finden an seiner Oberfläche zueinander und verlassen die chemische Tanzfläche dann von selbst wieder oder lassen sich zumindest ohne großen Aufwand herunter schieben. Nur wenn Chemiker genau wissen, was sich auf der Tanzfläche der Molekühle abspielt, können sie bei der chemischen Partnersuche nachhelfen.

Eine hervorragende Bühne für chemische Reaktionen ist auch die Oberfläche von Platin, an der sich etwa Kohlenmonoxid und Sauerstoff zu Kohlendioxid verbinden. Mit dieser Reaktion entfernen Katalysatoren in Autos giftiges Kohlenmonoxid aus den Abgasen. Ohne die Platinoberfläche wäre diese Reaktion nicht möglich. Gerhard Ertl hat wiederum mit allen Tricks der Analytik herausgefunden, wovon der Erfolg diese Reaktionen abhängt: unter anderem davon, wie dicht die Platinoberfläche mit Kohlenmonoxid-Molekülen bedeckt ist.

Ein Beitrag zum Umweltschutz

An dieser Reaktion zwischen Kohlenmonoxid und Sauerstoff auf Platin zeigte sich zudem die ganze Stärke von Ertls Ansatz. Anders als das Haber-Bosch-Verfahren verläuft sie nämlich nicht linear. Das heißt, wenn sich die Anfangsbedingungen der Reaktion nur ein wenig ändern, kann das einen großen und unvorhersehbaren Effekt auf das Ergebnis haben. So lagern sich Kohlenmonoxid und Sauerstoff auf der Platinoberfläche in Mustern ab, die sich ständig ändern und sich möglicherweise in chaotischen Strukturen auflösen. Umso wichtiger ist es die Prozesse genau zu kennen, damit sie sich beeinflussen lassen

Nicht nur im Autokatalysator leisten Ertls Erkenntnisse einen Beitrag zum Umweltschutz. Die Art, wie er Reaktionen untersucht, hat auch Atmosphärenchemikern geholfen den Abbau der Ozonschicht zu erforschen. Die Reaktionen, in denen das Ozon aus den oberen Atmosphärenschichten verschwindet, finden auch an den Oberflächen von Eiskristallen in der Stratosphäre statt. Paul J. Crutzen vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, Maio J. Molina vom Massachussets Institute of Technology in Cambridge/USA und F. Sherwood Rowland von der University of California in Irvine/USA haben 1995 den Nobelpreis erhalten, weil sie die Reaktionen entschlüsselten. Das Werkzeug, um sie zu untersuchen, verdanken die drei Wissenschaftler auch den Arbeiten von Gerhard Ertl.

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