Unerschrocken zum Touchdown

15. März 2012

Auf dem College nannten sie ihn wegen seiner Figur und seines ausgeprägten Willens einfach stump – Baumstumpf. Heute ist der ehemalige Footballspieler Samuel Young ein anerkannter Neurowissenschaftler. Mit innovativen Werkzeugen und ausgefeilten Techniken möchte er herausfinden, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren. Der Nachwuchsgruppenleiter am
Max Planck Florida Institute ist Forscher durch und durch. Doch seine Karriere verlief ungewöhnlich.

Text: Hubertus Breuer

Samuel Young wirkt nicht, als würde er sich leicht einschüchtern lassen. Der Mann ist muskulös und breit wie ein Schrank, sein lautes Lachen markiert selbstbewusst sein Territorium. Wenn er unter Palmen bei Steak und Fritten auf dem Campus der Florida Atlantic University erzählt, welcher Weg ihn aus einem Mittelklassewohnviertel in New Jersey als Nachwuchsgruppenleiter an das Max Planck Florida Institute geführt hat, gewinnt man den Eindruck, dass seine körperliche Präsenz und der dahintersteckende Wille hilfreich waren.


Denn in den Schoß gelegt wurde dem Jungwissenschaftler bisher wahrlich
nichts. Seit gut einem Jahr forscht der 37-jährige Samuel (Sam) Young in Jupiter
an der Atlantikküste Floridas. Er untersucht, wie Neuronen miteinander kommunizieren. Das geht er mit einem innovativen Arsenal von Werkzeugen an: mit manipulierten Viren etwa, die Gene in Zellen einschleusen, oder mit ausgefeilten Operationstechniken, die ihm erlauben, die Genfunktionen bestimmter Hirnzellen bei Mäusen und Ratten zu manipulieren, um so ihre neuronale Signalübertragung zu studieren.


Mit Viren das Gehirn erforschen

Dieses Handwerkszeug hat der Forscher an akademischen Zentren wie der Princeton University, der University of North Carolina in Chapel Hill, dem Salk Institute im kalifornischen La Jolla und am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen selbst entwickelt. „Was ich mache, ist Grundlagenforschung – wir wollen wissen, welche biophysikalischen und molekularen Mechanismen dem Gehirn zugrunde liegen. Wenn wir diese Zusammenhänge verstehen, können wir die Ursachen von Erkrankungen des Gehirns nachvollziehen“, sagt er.

Absehbar war Youngs Karriere zu Beginn seines Studiums nicht – vom Partyfeiernden Collegestudenten und Footballspieler zum virtuosen Forscher auf den Gebieten der Molekularbiologe, Virologie, Elektrophysiologie und Biophysik. Der Wissenschaftler erinnert sich an eine Aussage seines Mentors, des Krebsforschers Arnold Levine: Young hatte eben seinen Abschluss in Princeton gemacht, und Levine meinte, dass es Menschen wie ihn in den Naturwissenschaften eigentlich gar nicht gibt.

Sam Young wuchs in New Jersey in einer typischen amerikanischen Vorstadtsiedlung auf – in Caldwell, 20 Kilometer von New York entfernt. Er wohnte in einem zweistöckigen Haus im Kolonialstil, inklusive Garageneinfahrt und Garten nach hinten. Als er noch klein war, arbeitete seine Mutter freitags und samstags als Kellnerin. Später kümmerte sie sich die ganze Zeit um ihre Kinder und ging erst wieder arbeiten, als Sam die Highschool besuchte. Vor zwei Jahren erwarb sie im Alter von 60 Jahren noch einen Collegeabschluss. Der Vater war Vertreter einer Firma, für die er in Newark Snackfood auslieferte.

Die benachbarte Stadt war berüchtigt: In vielen Vierteln waren Drogenkriminalität, Bandenkriege und Straßenüberfälle die Tagesordnung. Auch Youngs Vater wurde überfallen und angeschossen. Daraufhin ging er in Frühpension. „Mein Vater war hochintelligent, aber er hatte leider nicht die Ausbildungschancen, die er seinen Kindern später eröffnen konnte.“

Gute Ausbildung als Starthilfe

Ihr braucht eine gute Ausbildung, damit ihr nicht eines Tages wie ich schwer
körperlich arbeiten müsst, um euren Lebensunterhalt zu verdienen, habe der Vater immer wieder gesagt. Sam Young und seine Geschwister nahmen sich das zu Herzen. Sams älterer Bruder Andrew war der Erste in der Familie, der ein Collegestudium absolvierte, um dann eine Karriere in der Pharmaindustrie zu starten. Sein jüngerer Bruder promovierte in Chemie und ist als leitender Forschungschemiker auf dem Gebiet der umweltfreundlichen Energietechnologie tätig.

„Es fällt mir heute schwer, das zu sagen“, erzählt Sam Young und macht eine Pause beim Essen, „aber mein Vater schlug uns Kinder gelegentlich – und das machte mich in gewisser Hinsicht unsicher. Gleichzeitig führten die Schläge dazu, dass ich härter wurde – und körperlicher und seelischer Bestrafung standhalten konnte.“ Zudem war Young kräftig gebaut und ein guter Sportler: „Ich hatte das Gefühl, dass mich nichts brechen kann. Ich war immer überzeugt, alles schaffen zu können.“

Young glänzte außerdem in der Schule: „Ich musste nie lernen, alles fiel mir immer sehr leicht“, erinnert er sich. Zudem entdeckte er früh seine Neigung zu den Naturwissenschaften. Eine seiner Lieblingslektüren war das Buch Science experiments you can eat – Experimente, die man essen kann. Damit erforschte er, wie Kohl als Detektor Säure aufspürt, wie Bakterien Joghurt herstellen und Zucker sich in Karamell verwandelt.


Auf der Highschool fing er dann an, Football zu spielen. Young war zwar nicht der Größte in der Mannschaft – 1,78 Meter ist in diesem Sport eher unterer Durchschnitt –, doch stark und furchtlos. Sein Ruf als begabter Spieler half ihm bei seinen Collegebewerbungen. Und es war gerade die Eliteuniversität Princeton, die dankbar war, den Footballspieler mit ausgezeichneten Noten in ihrem neuen Collegejahrgang aufzunehmen. Für Young war es eine Bestätigung, dass er alles meistern könne.


Standesdünkel und Vorurteile

Einmal dort angekommen, erlebte er allerdings einen Kulturschock: Die meisten
seiner Studienkollegen stammten aus wohlhabenden Familien, hatten Privatschulen besucht und genossen alle Vorteile, die ein solches Umfeld zu bieten hat. Alle waren seit ihrem ersten Lebenstag darauf vorbereitet, eine Ivy- League-Universität zu besuchen. „Ich hatte anfangs große Probleme mit dem Elitedenken am Campus“, sagt Young. Seine Kommilitonen ließen ihn und andere Footballspieler spüren, dass sie in ihren Augen nur wegen des Sports in Princeton angenommen worden waren. Das schweißte natürlich zusammen – im Kreis der Footballmannschaft fand Young bald ein Zuhause.

Sam Young begann das erste Semester gleich mit einem Experiment: „Weil ich immer gut in Naturwissenschaften war, wollte ich wissen, was passiert, wenn ich nur Seminare in den Sozial- und Geisteswissenschaften belege. Das war aber keine gute Idee, wie sich später herausstellte.“ Gleichzeitig feierte er kräftig – ganz so wie viele amerikanische Collegestudenten, die erstmals fern von zu Hause wohnen. Young lebte die Initiationsriten in die Welt des frühen Erwachsenseins besonders exzessiv aus. „Ich war der Typ, der bei einer Feier immer etwas Verrücktes tat. Die meisten meiner Mitstudenten kannten nicht einmal meinen richtigen Namen, für die war ich einfach nur Stump.“ „Stump“ steht für „Baumstumpf“ – der Mann, der so breit wie groß ist und nichts und niemandem ausweicht.

Als er sich wieder den Naturwissenschaften zuwandte, entschied er sich, Molekularbiologie als Hauptfach zu wählen. Also wurde er im entsprechenden Fachbereich bei der Sekretärin vorstellig. Die sah ihn nur an und sagte: „In unserem Department gibt es keine Footballspieler.“ Doch einer der Stars, der Krebsforscher Arnold Levine, war selbst Footballfan und nahm Young unter seine Fittiche. „Wenn Arnie Levine mir keine Chance gegeben hätte, wäre ich heute wahrscheinlich kein Wissenschaftler“, sagt Young.

Levine war bekannt geworden als Mitentdecker des Proteins p53, das in manchen Tumoren die Entwicklung von Krebs unterdrückt. Er akzeptierte, dass Young während der Footballsaison nicht im Labor arbeiten konnte. Dafür durfte er den Rest der Zeit doppelt auf ihn zählen. Er stellte Young einen Betreuer an die Seite, den Molekularbiologen Dan Notterman. Die beiden erforschten, ob p53 auch daran beteiligt ist zu verhindern, dass sich Zellen mit abnormalen Chromosomenzahlen bilden. 1998, zwei Jahre nach seinem Collegeabschluss, veröffentlichte Young das Ergebnis als Zweitautor im Fachjournal ONCOGENE.

Während seines letzten Jahrs in Princeton hörte der junge Wissenschaftler zwei Vorträge, die seine Laufbahn entscheidend beeinflussen sollten: einen über das Potenzial der Gentherapie, einen anderen über die Erforschung des Gedächtnisses bei Taufliegen. Youngs Entscheidung, bei Jude Samulski – einem Pionier der viralen Gentherapie und Mitentwickler von Gentherapievektoren – an der University of North Carolina in Chapel Hill zu promovieren, stellte die Weichen für seine wissenschaftliche Laufbahn.

Aus eigenem Antrieb und auf eigene Kosten fing Sam Young an, direkt nach dem Collegeabschluss in Samulskis Labor zu arbeiten. Bald hatte er auch ein eigenes Projekt: wie sich Adeno-assoziierte Viren an das Erbgut anbinden. Diese Viren haben den Vorteil, dass sie, soweit bekannt, keine Genkrankheiten verursachen. Einmal in eine menschliche Zelle eingeschleust, integrieren sie sich auf dem Chromosom 19. Young untersuchte in seiner Dissertation dabei den speziellen Mechanismus, warum sich dieses Virus gerade dort im menschlichen Genom einbaut.

Dazu musste er neue Fertigkeiten lernen: klonen, neue Zelllinien entwickeln und rekombinante Viren produzieren. Aber auch anderes Handwerkszeug lernte er bei Samulski: Wie man eine wissenschaftliche Publikation schreibt oder eine Präsentation hält. Kurzum: „Jude brachte mir von Grund auf bei, wie man Wissenschaftler wird.“

Lieber sorgfältig als schnell

Unter anderem untersuchte Sam Young, wie viele Proteine des Adeno-assoziierten Virus in einer Zelle exprimiert werden. Er ging das Projekt zunächst in der ihm eigenen Manier an: Gerade erst im zweiten Jahr seines Graduiertenstudiums angekommen, wollte er unbedingt mit aller Kraft einen raschen „Touchdown“– nämlich als Erstautor einen Artikel veröffentlichen. Um das vermeintlich letzte Experiment rasch zum Abschluss zu bringen, nahm er Nachlässigkeiten in Kauf. „Was ich da versucht habe, war Wissenschaft für die Mülltonne“, gibt er heute selbst zu. Und Samulski reagierte entsprechend und schickte ihn erst einmal nach Hause mit dem Hinweis: „Die Wissenschaft kennt keine Abkürzungen.“

Rückblickend sieht Sam Young das als einen Wendepunkt in seiner jungen Laufbahn. Als er nach drei Wochen ins Labor zurückkehrte, hatte er seine Einstellung gründlich überdacht. „Es war ein kathartischer Moment. Und ich denke immer an Samulskis Ratschlag: Sam, du wirst nie genug Zeit haben, beim ersten Mal alles richtig zu machen. Aber du wirst immer genug Zeit haben, es noch einmal zu machen.“ Jahre später ließ Young seinen ersten Sohn in Anerkennung und Respekt für alles, was Samulski beruflich und privat für ihn getan hatte, auf den Namen Jude taufen.

Seine Doktorarbeit hatte Young dreieinhalb Jahre nach dem Hochschulabschluss fertig. Das Adeno-assoziierte Virus, fand er heraus, integrierte sich auf Chromosom 19 nicht nur, weil es dort geeignete Andockstellen fand, sondern weil seine Proteine auch die Replikation des Chromosoms bei der Zellteilung unterstützen.

Wie funktionieren Lernen und Gedächtnis?

Mit dem Ende dieses Projekts begann Young, sich nach Postdoc-Stellen umzusehen. In der Gentherapie wollte er nicht bleiben, da ihm dort die Fragen zu angewandt waren – ihn interessierte die Grundlagenforschung. Er erinnerte sich seiner Faszination für die neuronalen Grundlagen des Gedächtnisses und überlegte, ob sich Gene von Neuronen so manipulieren ließen, dass dies Rückschlüsse auf ihre Funktion erlaubt.

In der Hirnforschung hatte man nicht gerade auf Sam Young gewartet. Einige Wissenschaftler antworteten ihm, die Idee sei zu ambitioniert. Doch der Neurobiologe Charles Stevens am Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen San Diego zeigte sich interessiert. „Ich bin Stevens für immer dankbar, dass er mir die Möglichkeit gab, meinen Schwerpunkt zu wechseln“, sagt Young heute. Er musste ein neues Forschungsfeld von Grund auf erlernen.

Das erste halbe Jahr verbrachte Sam Young deshalb damit, das klassische Handbuch von Eric Kandel über die neurologischen Grundlagen des Gedächtnisses und Bertil Hilles Standardwerk über Ionenkanäle in Zellmembranen zu studieren. Auch Steve Heinemann, ein weiterer Experte für molekulare Neurowissenschaften am Salk Institute, unterstützte Young dabei, das ihm unbekannte Terrain zu erkunden. Das Wagnis, sich ein neues Gebiet zu erarbeiten, demonstriert eine Stärke Youngs. Er scheut sich nicht, neue Fertigkeiten zu erwerben, wenn es der Beantwortung einer wissenschaftlichen Frage dient. „Ich habe nie bewusst angestrebt, interdisziplinär zu arbeiten, sondern es ergab sich zwangsläufig aus meinen Forschungsinteressen“, erzählt er.

Sam Young erlernte auch die aufwendige Patch-Clamp-Technik. Diese Methode erlaubt es, mithilfe feiner Pipettenspitzen winzige Ströme durch einzelne Ionenkanäle einer Zellmembran zu messen. Entwickelt haben diese Methode Erwin Neher und Bert Sakmann in den 1970er-Jahren am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen. 1991 erhielten die beiden dafür den Medizin-Nobelpreis. Sakmann hatte als Direktor die Gründung des Max Planck Florida Institutes begleitet.

Mit der Patch-Clamp-Technik lässt sich untersuchen, wie sich synaptische Kontakte und damit die Effizienz der Signalleitung verändern. An der Synapse wird das durch das Neuron wandernde elektrische in ein chemisches Signal umgewandelt, da es vom Senderneuron auf das Empfängerneuron übertragen werden muss. Das geschieht mittels Botenstoffen, die in membranumhüllte Bläschen (Vesikel) verpackt werden. Sie müssen mit der Zellmembran fusionieren, ehe sie in den synaptischen Spalt zwischen Sender und Empfänger gelangen.

Bei diesem Prozess spielen sogenannte SNARE-Proteine eine Rolle – die Sam Young in La Jolla genauer untersuchte. Dabei entdeckte er, dass sie die Stärke des Signals offenbar deutlich beeinflussen. Und das – anders als bis dahin gedacht – unabhängig von der an der Zellmembran zuvor bereitgestellten Zahl an Vesikeln. Vier Jahre arbeitete Young an dem Projekt; ein im renommierten Fachjournal PNAS 2005 veröffentlichter Artikel fasste die Ergebnisse zusammen.

Im Labor des Nobel-Preisträgers

Nach Kalifornien schloss sich eine zweite Postdoc-Stelle in Deutschland an, wo Sam Young später eine interne Gruppenleitung übernahm – bei Erwin Neher am Göttinger Max-Planck-Institut. Young hatte Neher im Sommer 2004 auf einer Konferenz getroffen. Anlässlich dieser Begegnung hatte dieser ihm eine Kooperation vorgeschlagen, woraufhin Young mutig meinte: „Wie wäre es, wenn ich zu Ihrer Arbeitsgruppe stoße?“ Neher, der monatlich Hunderte Anfragen bekommt, sagte spontan: „Prima Idee.“

Der Nobelpreisträger kann sich an das Gespräch noch gut erinnern. „Sam Young brachte Erfahrung in Virologie mit, die wir damals im Labor brauchten. Seine Zeit im Labor meines früheren Mentors, Charles Stevens, garantierte außerdem, dass er eine profunde Kenntnis in Elektrophysiologie hatte.“

Für Young gab es jedoch bald ein kleines Problem: Einige Wochen nach seinem Treffen mit Erwin Neher traf er bei einer Feier die Liebe seines Lebens: Sidney. Zwei Monate lang erzählte er ihr nichts von seiner bevorstehenden Abreise. Als er ihr seine Pläne eingestand, drohte die noch junge Beziehung auseinanderzubrechen. Doch nach einigen dramatischen Krisensitzungen kamen die beiden überein, dass sie ihn nicht nur begleiten würde, sondern sie auch heiraten würden – was dann allerdings noch drei Jahre dauerte.

Young war zuvor noch nie in Deutschland oder überhaupt in Europa gewesen. „Mir war nicht klar, wie weit nördlich es liegt, zumindest im Vergleich zu New Jersey, wo ich aufgewachsen bin.“ Sosehr ihn das kühlere Klima überraschte, Göttingen und besonders die Abteilung von Erwin Neher ist für Young bis heute das „Shangri-La“ der Naturwissenschaften – nach dem sagenhaften Ort im Himalajagebirge, an dem Menschen sich ganz einer geistigen Existenz widmen.

In Nehers Labor begann Young erstmals mit jener Synapse zu arbeiten, die ihn bis heute begleitet: die Calyx von Held. Diese Riesensynapse im auditorischen Hirnstamm von Ratte und Maus erreicht bis zu 0,02 Millimeter Durchmesser. Auch hier betrat der Forscher wieder Neuland. Er musste eine neue Technik konzipieren und spezielle rekombinante Adenoviren entwickeln.

Gleichzeitig entwickelte er eine Operationsmethode, um die rekombinanten Viren gezielt in die Calyx von Held im auditorischen Hirnstamm neugeborener Ratten zu injizieren. So konnte er die Viren als Transportvehikel benutzen, um neue Gene in die Nervenzellen einzubringen, damit die molekularen Abläufe an der Synapse zu manipulieren und so Auskunft über die Funktionsweise zu erhalten.

Erfolg in letzter Minute

Die ersten zwei Jahre allerdings funktionierte kein einziger seiner Versuche.
Dann, 2007, ging Young eines Tages mit Erwin Neher zum Mittagessen und eröffnete ihm, dass, wenn das nächste Experiment nicht klappen werde, das ganze Projekt gescheitert sei. Zudem war seine Frau damals im fünften Monat schwanger – und als verantwortungsvoller Familienvater wollte Young unbedingt einen Erfolg vorweisen, der auch seine berufliche Zukunft sichern würde. Alles hing davon ab, ob die fremden Gene, die er mittels Viren in die Calyx-Synapse einbrachte, auf einem so hohen Niveau aktiviert würden, dass die molekularen Prozesse dort gestört würden.

Das entscheidende Experiment wollte er noch vor der Geburt seiner Tochter machen. Doch kurz vor der ersten elektrophysiologischen Messung ging der Mikromanipulator kaputt. So musste er sich noch ein paar Wochen gedulden: Dann aber hatte er die Synapsenfunktion erfolgreich manipuliert. Der Wissenschaftler entdeckte, dass Synaptotagmin – ein in der Zellmembran lokalisiertes Protein – hilft, synaptische Vesikel an der aktiven Zone zu positionieren und ihre simultane Freisetzung mit zu ermöglichen.

Noch bevor die Publikation erschien, machte sich Young erneut Gedanken um seine Zukunft und führte Gespräche mit mehreren Universitäten in den USA. „Die Staaten sind mein Zuhause und das meiner Familie. In Deutschland zu bleiben war deshalb keine Option.“ Ganz ging er dem Land nicht verloren – denn mit einem Mal bot sich die Gelegenheit für eine Bewerbung als Nachwuchsgruppenleiter am neu gegründeten Max Planck Florida Institute.

„Die Möglichkeiten, die Max-Planck bietet – ohne den Druck, ständig Forschungsanträge schreiben oder zu viel unterrichten zu müssen –, und die Ideale, für die Max-Planck steht, waren sehr verlockend“, sagt Sam Young. „Ich kannte das Ökosystem Max-Planck bereits von Göttingen sehr gut, und das neue Institut gab mir die Möglichkeit, weiter in der Max-Planck-Familie zu arbeiten.“

Mit dem von ihm entwickelten Instrumentarium ging Young daran, die Feinmechanik der synaptischen Signalübertragung weiter aufzudröseln. Seine viralen Genfähren erlauben ihm, Neuronen genetisch zu manipulieren, seine innovativen chirurgischen Methoden und die Patch-Clamp-Technik helfen, präzise Messungen auszuführen. Auf diesem Weg will er künftig unter anderem genauer untersuchen, wie die Vesikel mit den Botenstoffen funktionsfähig gemacht werden, welche Rolle ausgewählte Proteine dabei spielen und wie die Kalziumkanäle an der aktiven Zone des präsynaptischen Spalts angeordnet sind. „Wir müssen quantitative Messungen gemeinsam mit molekularen Manipulationen machen, denn nur mit ihnen können wir akkurate Modelle dazu entwickeln, wie Synapsen funktionieren“, sagt der Forscher.

Zudem ist er dabei, gemeinsam mit der Florida Atlantic University ein Doktorandenprogramm in Neurowissenschaften auf die Beine zu stellen. Und er hat bereits ein neurowissenschaftliches Symposium organisiert, mit dem dieses Graduiertenprogramm lanciert wurde. „Hier können wir etwas Besonderes aufbauen“, sagt er und strahlt. Der Zuhörer ist überzeugt, dass das Programm ein Erfolg wird. Sam Young hat einen starken Willen.

GLOSSAR

Adenoviren
Eine Gruppe von Viren, die menschliche und tierische Zellen infizieren können. Sie gelangen in von der Zellmembran abgeschnürten Bläschen ins Zellinnere. Adenoviren besitzen zudem keine Virushülle und sind sehr widerstandsfähig. Wissenschaftler verwenden sie häufig, um Gene in Körperzellen einzuschleusen. Natürliche Adenoviren können beim Menschen Infektionen wie Atemwegserkrankungen oder Magen-Darm-
Infektionen hervorrufen.

Ionenkanäle
Kanalförmige Proteine in der Membran von Zellen, durch die elektrisch geladene Teilchen wie Natrium-, Kalzium-, oder Chloridionen ein- oder ausströmen können.
Verschiedene Auslöser können die räumliche Struktur des Proteins verändern, sodass der Kanal durchlässig oder blockiert wird. Dazu zählen elektrische und mechanische Spannung, Bindungspartner und Licht. Ionenkanäle bestimmen wesentlich die elektrischen Eigenschaften einer Zelle.

Virale Gentherapie
Die virale Gentherapie wird dazu genutzt, genetisch bedingte Erkrankungen zu heilen. Dabei fungieren Viren als Vehikel, um eine funktionstüchtige Version des defekten Gens in bestimmte Zellen einzubringen. Die gentechnisch veränderten Viren können Zellen zwar infizieren, sich aber nicht weiter vermehren.

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