Das entfesselte Gestirn

Die Sonne ist der Stern, von dem wir leben. Die alten Kulturen wussten sehr wohl, welch enge Bande die Erde mit dem glühenden Feuerball am Himmel verknüpfen. Die Sonne wärmt uns nicht nur oder sorgt bei ihren Untergängen für romantische Stimmung. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich als brodelndes Gestirn, das reichlich Stoff für die Wissenschaft liefert.

Text: Helmut Hornung

„Sei ruhig mein Sohn und vertraue Gott. Ich versichere Dir, dass die Flecken nichts anderes sind als Fehler in Deinen Gläsern.“ Der Ingolstädter Jesuitenpater Christoph Scheiner befand sich in einem Zwiespalt, als er die Zeilen seines Ordensprovinzials las: Hatte nicht Gott die Sonne als reines und makelloses Licht geschaffen? Andererseits wusste Scheiner, dass die schwarzen Regionen auf dem Tagesgestirn keineswegs Fehler im Fernrohr waren. Auch andere Forscher wie Galileo Galilei oder Johannes Fabricius beobachteten sie Anfang des 17. Jahrhunderts. Schon alte chinesische Chroniken berichten von Sonnenflecken, die sich gelegentlich dem bloßen Auge zeigen.

Was hat es mit diesem Phänomen auf sich? Die Sonne besitzt keine feste Schale. Was Astronomen als „Oberfläche“ bezeichnen, ist jene nur etwa 350 Kilometer dünne Schicht, aus der das für uns sichtbare Licht stammt: die Photosphäre. Der gesamte Sonnenball hat gewaltige Dimensionen: Bei einem Durchmesser von 1,39 Millionen Kilometern fänden 1,3 Millionen Erdkugeln in ihm Platz. Und mit 2000 Quadrillionen Tonnen hat die Sonne die 330000-fache Masse unseres Planeten – im Vergleich zu vielen anderen Sternen ist sie jedoch ein Zwerg.

Die Sonnenflecken scheinen in der Photosphäre zu schwimmen wie schwarze Inseln. Noch im 17. Jahrhundert erkannten die Forscher, dass zumindest die größeren unter ihnen einen dunklen Kern besitzen, die Umbra (von lateinisch: Schatten). Diese Umbra umgibt ein hellerer Halbschatten, der Penumbra genannt wird. Die meisten Sonnenflecken sind größer als die Erde, manche Fleckengruppen bringen es auf eine Ausdehnung von mehr als 300000 Kilometern; das entspricht gut zwei Drittel der Distanz zwischen Erde und Mond.

Im 18. Jahrhundert glaubten selbst ernstzunehmende Wissenschaftler, bei den dunklen Flecken handele es sich um Löcher in der Sonnenatmosphäre, die einen Blick auf die darunterliegende, von fremden Wesen bewohnte Oberfläche erlaubten. Dann aber bestimmten Forscher die Temperatur der Photosphäre zu 5500, die der Umbren zu 4000 Grad Celsius. Diese Differenz lässt die Flecken im Kontrast zur ungestörten Photosphäre merklich dunkler erscheinen. Warum aber sind sie kühler?

Der Schlüssel zu den Flecken liegt gewissermaßen „unter der Haut“. Die Sonne ist ein Gasballon, in dessen Zentrum ein Fusionsreaktor bei Temperaturen um die 15 Millionen Grad ständig Wasserstoff in Helium umwandelt. Dabei liefert das solare Kraftwerk in jeder Stunde eine Energie von 380 Trilliarden Kilowatt. Zwei Mechanismen transportieren sie an die Oberfläche: Strahlung und Konvektion.

In der äußeren Konvektionszone – sie macht nicht einmal ein Viertel des Sonnenradius aus – steigen heiße Plasmablasen mit einer Geschwindigkeit von mehr als 3000 Kilometern pro Stunde in die Photosphäre auf, kühlen sich ab und sinken ein paar Minuten später wieder nach unten. Dieses permanente Blubbern und Brodeln verleiht der Photosphäre eine körnige Struktur. Die einzelnen Körner, Granulen genannt, haben Durchmesser von bis zu 1500 Kilometer.

Wegen der stets unruhigen Erdatmosphäre erscheint der granulare „Sonnensand“ in bodengebundenen Teleskopen mehr oder weniger deutlich. Ihn im Bild einzufrieren, fordert jeden Astrofotografen heraus. Die besten Resultate liefern Ballon- oder Satellitenteleskope außerhalb der störenden Erdatmosphäre. Die Aufnahmen enthüllen ein Netzwerk von meist eckigen Granulen, die schmale dunkle Zwischenräume voneinander trennen. Zeitrafferfilme zeigen, dass sich das Netz laufend erneuert.

In Bewegung ist aber nicht nur die Photosphäre. Auch im Innern der Sonne zirkuliert heiße Materie. Dieses Plasma – Gas, das teilweise oder vollständig aus Ionen und Elektronen besteht – ist elektrisch leitend. Wie jeder Stern besitzt die Sonne ein Magnetfeld, das etwa 200000 Kilometer unter ihrer Oberfläche entsteht. Wenn Plasma durch Konvektion nach oben steigt, zieht es die Magnetfeldlinien mit sich wie ein Teelöffel, den man in Honig eintaucht und dann zum Mund führt. Die Magnetfeldlinien behindern den Aufstieg der Granulen, die Energieversorgung der Photosphäre wird dadurch gestört. Dort, wo die gebündelten Feldlinien schließlich die Oberfläche durchstoßen, kühlt sie ab: Ein Sonnenfleck entsteht.

Das Foto zeigt zwei solcher Flecken. Johann Hirzberger vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung gewann es mit dem Swedish Solar Telescope (SST) am Observatorium Roque de los Muchachos auf La Palma. Mit einer Öffnung von 98 Zentimeter ist das SST das zweitgrößte Linsenfernrohr der Welt. Der Teleskoptubus ist evakuiert, um Luftturbulenzen zu vermeiden, die das Auflösungsvermögen beeinträchtigen würden. Außerdem gleicht eine adaptive Optik das in der Erdatmosphäre stets vorhandene Flirren aus. Dazu analysiert das Instrument das Bild der Sonne 1000-mal in der Sekunde und passt die Optik entsprechend an. Auf diese Weise liefert das Swedish Solar Telescope Bilder hoher Schärfe, vergleichbar mit ballon- oder weltraumgestützten Observatorien.

Auf der hier gezeigten Aufnahme sind an den Rändern der Sonnenflecken helle fadenförmige Strukturen zu erkennen. Eigentlich sollten diese ebenfalls dunkel erscheinen, weil die magnetischen Felder stark genug sein müssten, um den Nachschub zu behindern und die Region zu kühlen. Forscher um Hirzberger haben indes nachgewiesen, dass das lokale Magnetfeld stellenweise gelockert ist. Das Plasma zirkuliert und ruft langgezogene leuchtende Strukturen hervor, die sich um ihre Achse zu drehen scheinen.

Flecken treten häufig in Gruppen auf. Ihre Anzahl ist ein Maß für die Sonnenaktivität – und nicht immer gleich: Durchschnittlich alle elf Jahre leidet der Stern sozusagen unter Windpocken, dann bedecken besonders viele Flecken sein gleißendes Antlitz. Zum letzten Mal war das im Jahr 2001 der Fall. Derzeit sollte die Zahl der Flecken wieder deutlich zunehmen. Doch die Sonne scheint nur langsam in Fahrt zu kommen, das aktuelle Maximum lässt sich schwach an.

Zur Redakteursansicht