Charismatisch, egozentrisch und rastlos

Das aufregende Leben des Wissenschaftlers Sergej Tschachotin ist Mittelpunkt eines preisgekrönten Dokumentarfilms

22. Februar 2012

Er war Naturwissenschaftler, Pawlow-Schüler, Sozialist, Pazifist, Antifaschist und mehrfacher Emigrant, fünf Mal verheiratet und hatte acht Söhne: Sergej Tschachotin (1883-1973), zentrale Figur eines Dokumentarfilms, der jetzt bundesweit in die Programmkinos kommt, verkörpert ein Jahrhundert der Extreme, das den gebürtigen Russen durch zahlreiche europäische Länder und in viele wissenschaftliche Forschungseinrichtungen trieb – für knapp drei Jahre auch ins Kaiser-Wilhelm-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg.

Interview: Susanne Beer

Es ist ein Familiendrama der ganz besonderen Art: Boris Hars-Tschachotin, in Berlin lebender deutscher Urenkel des russischen Mikrobiologen, hat sich aufgemacht, die faszinierenden Geschichten, die sein Großvater über seinen Vater erzählte, filmisch nachzuzeichnen. „Sie waren wie die Blasen in der heißen Marmelade, die meine Großmutter jeden Sommer einkochte. Langsam stiegen sie empor und öffneten für einen Moment Gucklöcher in eine Vergangenheit…“. Dieser Vergangenheit seines schillernden Urahnen, „den die turbulenten Zeitläufte durch Europa wirbelten“, wie es in einer Filmkritik heißt, geht Boris Hars-Tschachotin in Gesprächen mit vier von dessen Söhnen nach. Der Regisseur lässt den völlig unterschiedlichen Charakteren ihren Raum, versucht sie aber zu einen, um die Urne mit der Asche des Urgroßvaters endlich zu begraben.

Auch in der Max-Planck-Gesellschaft ist Sergej Tschachotin nicht vergessen. Annette Vogt, Forscherin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte mit detaillierten Kenntnissen der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus, hat sich mit dem rastlosen Leben des Russen zwischen den Polen Politik und Wissenschaft beschäftigt, den es nach Fürsprache von Albert Einstein zwischen 1930 und 1933 nach Heidelberg verschlug.

Sie haben den Film „Sergej in der Urne“ schon gesehen – wie hat er Ihnen gefallen?

Annette Vogt: Ich finde ihn außerordentlich gut gemacht und sehr unterhaltsam. Allerdings dürften Wissenschaftler, die hoffen, einiges über Sergej Tschachotin als Mikrobiologen zu erfahren, enttäuscht werden. Sein Urenkel, der Regisseur des Films ist, hat sich mehr für den allgemeinen Weg seines aufreibenden Lebens  interessiert. Und dieser ist gefiltert durch die Sicht von vier seiner Söhne. Sie sind höchst verschieden und zeichnen sehr emotional das Bild einer schillernden Persönlichkeit. Ihre Bewertungen reichen von „großartig“ bis zu „er war ein Mistkerl“. Und weil sie in ihrer jeweiligen Muttersprache Deutsch, Französisch beziehungsweise Russisch reden, bekommt man nebenbei ein Gefühl für Tschachotins Wandern durch die Welt. Die Urne mit Tschachotins Asche hält den Film zusammen: Mit ihrer Entdeckung beginnt die Spurensuche des Urenkels, mit ihrer Beisetzung soll sie enden, und er versucht hierfür die zerrissene Familie zusammenzubringen.

Schade finde ich, sozusagen von der Gender-Perspektive betrachtet, dass im Film zu den fünf Ehefrauen Tschachotins nur sehr wenig erzählt wird. Auch der Blick auf die prekären akademischen Arbeitsverhältnisse, mit denen Tschachotin fast sein gesamtes Forscherleben zurecht kommen musste, und unter denen er, seine Forschungen und seine jeweiligen Familien zu leiden hatten, kommt leider etwas zu kurz. Aber das kann man verschmerzen angesichts des grandiosen Familienpanoramas, das der Film entfaltet.

Tschachotin forschte zweieinhalb Jahre am KWI für medizinische Forschung – auch auf Empfehlung Einsteins hin. Wie beurteilen Sie den wissenschaftlichen Einfluss des Mikrobiologen?

Zellbiologen sind durchaus der Meinung, dass Sergej Tschachotin bedeutend war und ausgezeichnete Forschungen gemacht hat. So lobte selbst der Direktor am KWI, Karl Wilhelm Hausser, der als NSDAP-Sympathisant Tschachotins politischen Aktivitäten ablehnend gegenüberstand, dessen wissenschaftliche Arbeit. Tschachotins Tätigkeit am Institut betraf Untersuchungen zur Zellforschung sowie die Weiterarbeit an der von ihm entwickelten Strahlenstichmethode zur Untersuchung von lebenden Zellen, das heißt die spezielle Mikropunktur oder Mikrochirurgie mittels ultravioletter Strahlung. Die Tatsache, dass Tschachotin als Gastwissenschaftler über Stipendienmittel aus den USA verfügte, belegt, dass seine Geldgeber Erwartungen in seine Forschung setzten. Tschachotin hat regelmäßig publiziert. Und er passte mit seinem Fokus auf medizinische Technik im Dienst der Krebsforschung gut ins Institut. Das Gründungskonzept des Kaiser-Wilhelm-Instituts für medizinische Forschung sah vor, diese Forschungen interdisziplinär – würden wir heute sagen –  zu betreiben.

Was hat Sie bewogen, sich eingehend mit dem Briefwechsel zwischen Einstein und Tschachotin zu beschäftigen?

Beim 75-jährigen Jubiläum des Max-Planck-Instituts für Medizinische Forschung hatte ich 2005 in meinem historischen Festvortrag angeregt, eine Gedenktafel für die während der NS-Zeit vertriebenen Wissenschaftler zu erstellen. Die Idee wurde  aufgegriffen und 2006 realisiert. Für eine kleine Broschüre zu den 21 vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts habe ich viel recherchiert und bin unter anderem auf Briefe von Tschachotin an Einstein gestoßen, die sich im Einstein-Archiv in Jerusalem befinden.

Tschachotin versuchte Albert Einstein zu besonderen Aktivitäten gegen das NS-Regime aufzurufen. Mit Erfolg?

Tschachotin schrieb Einstein Ende 1933 – nachdem er Heidelberg bereits in Richtung Kopenhagen verlassen hatte – von der wachsenden Bedrohung durch die Nazis und schilderte ein Konzept, wie sie seiner Meinung nach eingedämmt werden könnte. Vielleicht war Einstein skeptisch, was die gegenpropagandistischen Maßnahmen anging, die Tschachotin in seinem Brief vorschlug. Aber das wissen wir nicht, es ist keine Antwort Einsteins auf das zwölfseitige Schreiben überliefert.

Wir wissen jedoch, dass Tschachotin die deutsche Sozialdemokratie unterstützte und von Heidelberg aus half, die „Eiserne Front“ als Gegengewicht zur NSDAP aufzubauen. Er hatte die NS-Propaganda analysiert und versuchte, eine sozialistische Gegenstrategie zu entwickeln; daraus resultierten auch die drei Pfeile, die das Bildsymbol der Eisernen Front wurden. Tschachotin hatte junge Sozialdemokraten gewonnen, mit diesen drei Pfeilen die Hakenkreuze an Heidelbergs Häuserwänden zu durchkreuzen. Das hatte im Frühjahr 1933 die Durchsuchung seiner Heidelberger Wohnung und seiner Laborräume im Institut sowie die kurzzeitige Verhaftung zur Folge. Als sowjetischer Staatsbürger musste er wieder freigelassen werden. Tschachotin war davon überzeugt, dass nur mit Hilfe von Wissenschaftlern die Welt noch zu retten sei, dafür hoffte er bei Einstein auf Rückhalt.

Sergej Tschachotin musste im Mai 1933 das Kaiser-Wilhelm-Institut verlassen. Wie gegenwärtig ist in der Max-Planck-Gesellschaft und im heutigen Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung das Schicksal Tschachotins?

Nach seiner Freilassung hatte Tschachotin an den KWG-Präsidenten Max Planck  geschrieben und Schutz vor Wiederholung solcher Vorkommnisse erbeten. Es erreichte ihn daraufhin ein Brief aus der Generalverwaltung, in dem ihm vorgehalten wurde, wegen politischer Betätigung als Ausländer sein Gastrecht in Deutschland verwirkt zu haben. Er solle sich darum künftig ruhig verhalten. Gekündigt wurde ihm im Institut dann doch.

Heute dürften die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Heidelberger Institut den Namen Tschachotin kennen: Er ist auf der 2006 angebrachten Gedenktafel vermerkt. Eine Ausstellung zur Institutsgeschichte hat ebenfalls auf die vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufmerksam gemacht. Und bekanntlich hat die Max-Planck-Gesellschaft im Zuge einer vom Präsidenten eingesetzten Kommission unter Vorsitz von zwei externen Historikern das Verhältnis der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zum NS-System in einem sechsjährigen Forschungsprogramm untersuchen lassen. Dabei ist neben zahlreichen Publikationen ein zentrales Gedenkbuch über Schicksale und Karrieren vertriebener Forscherinnen und Forschern entstanden, das auch an Sergej Tschachotin erinnert.

Dem hat nun Boris Hars-Tschachotin sicherlich eine spannende, weil sehr persönliche Variante von Geschichtsschreibung hinzugefügt…

Ja, das stimmt. Es lohnt sich, den Film anzuschauen. Das Heidelberger Max-Planck-Institut kommt im Film vor, aus Tschachotins autobiographischen Notizen wird die Passage vorgelesen, in der er von den guten Arbeitsbedingungen schwärmte. Und Herbert Zimmermann, als langjähriger Mitarbeiter des Instituts 2005 an dessen Jubiläumsausstellung zur Geschichte beteiligt, ist es gelungen, ein Exemplar von Tschachotins Schrift „Dreipfeil gegen Hakenkreuz“ aufzufinden. Ihm wird ausdrücklich im Abspann des Films gedankt.

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