Zwerggalaxie hat großen Hunger

Astronomen beobachten, wie sich ein kleines Milchstraßensystem ein noch kleineres einverleibt

8. Februar 2012

Das Motto „Aus Klein mach Groß“ gilt auch im All: Winzige Galaxien verschmelzen zu stattlichen Milchstraßensystemen. Wie aber wachsen die Zwerggalaxien? Offenbar auf ähnliche Weise, das heißt, durch kosmischen Kannibalismus. Zwei Gruppen unter Beteiligung von David Martínez-Delgado und Michelle Collins vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Astronomie jedenfalls haben eine Minigalaxie gefunden, die gerade eine andere auffrisst.

Die heute akzeptierten Modelle der Galaxienentwicklung beruhen auf Kannibalismus: Kleinere Sternsysteme verschmelzen in mehreren Schritten so lange miteinander, bis große Galaxien wie unsere Milchstraße oder ihre noch massereicheren Geschwister entstanden sind. Doch bevor diese Reaktionskette beginnt, müssen überhaupt erst einmal Sterne existieren, die zusammen mit Gas und Staub eine Galaxie formen.

Diese ersten Sterne im jungen All kamen auf die Welt, als Gaswolken unter ihrer eigenen Schwerkraft kollabierten. Erreichte die Materie dabei eine bestimmte kritische Dichte und Temperatur, zündete im Zentrum eines solchen Gasballons der Kernreaktor: Ein Stern war geboren. Zusammen mit Myriaden anderen bildete er ein Milchstraßensystem. Denkbar, dass die kleinsten bekannten Galaxien in der beschriebenen Weise entstanden. Eine Verschmelzung wäre zu deren Evolution nicht notwendig. Tatsächlich haben die Astronomen bei solchen Zwerggalaxien keine beobachtet – bis jetzt.

Zwei Teams, eines um David Martínez-Delgado vom Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA), das andere um Michael Rich von der University of California at Los Angeles (UCLA), haben nun unabhängig voneinander die Fusion zweier Zwerggalaxien aufgespürt: Sie fanden, dass es sich bei einem erstmals im Jahr 2007 nachgewiesenen Begleitobjekt der Galaxie NGC 4449 im Sternbild Jagdhunde um ein noch kleineres Milchstraßensystem handelt, das kurz davor steht, von NGC 4449 verschluckt zu werden. Dazu untersuchten die Wissenschaftler unter anderem die Form der Verzerrung, analysierten die Sterntypen und fahndeten nach Strukturen, welche die Umlaufbahn der als Speise dienenden Galaxie nachzeichnen.

„Eine Reihe von Modellen sagen vorher, dass Zwerge andere Zwerge verschlingen sollten. Jetzt haben wir solch eine Mahlzeit erstmals direkt beobachten können und so ein wichtiges Puzzlestück der Galaxienentwicklung gefunden“, sagt Martínez-Delgado. „Außerdem ist uns NGC 4449 mit einer Entfernung von 12 Millionen Lichtjahren relativ nahe. Das zeigt, dass solche Prozesse auch im heutigen Universum noch eine Rolle spielen. Sie müssen berücksichtigt werden, um unsere kosmische Nachbarschaft zu verstehen.“

Michelle Collins, die in der Rich-Gruppe die Form der Zwerggalaxie untersucht hat, ergänzt: „Wir wissen nun, wie eine halbverdaute Zwerggalaxie aussieht. Daher sollten wir weitere Beispiele für Zwerge finden, die andere Zwerge verschlingen.“ Sobald hinreichend viele Beispiele entdeckt seien, stünden die Modelle, welche die ersten Stadien des Galaxienwachstums als Verschmelzungsszenario beschreiben, auf einer sicheren Basis.

Massenschätzungen für den winzigen Begleiter von NGC 4449 legen nahe, dass er beträchtliche Mengen an Dunkler Materie enthält, die kein Licht aussendet und mit herkömmlicher atomarer Materie nur durch ihre Schwerkraft in Wechselwirkung tritt. Träfe dies zu, dann könnte es sich um eine „versteckte Verschmelzung“ handeln, bei der eine Galaxie mit einem Objekt fusioniert, dass leuchtschwach und daher nur schwer nachzuweisen ist, aber aufgrund seiner hohen Masse trotzdem einen merklichen Einfluss auf Form, Größe und Dynamik der größeren Galaxie ausübt.

Für ihre Untersuchungen verwendeten beide Gruppen vergleichsweise kleine, für ihre Zwecke aber gut geeignete Instrumente und arbeiteten dabei mit Amateurastronomen zusammen: Michael Rich und seine Kollegen nutzten im Mai und im Juni 2011 das Saturn Lodge 70-Zentimeter-Teleskop auf dem Gelände der Polaris Observatory Association. Das Team um David Martínez-Delgado, der mit einem Humboldt-Stipendium am Heidelberger Max-Planck-Institut für Astronomie forscht, arbeitete zwischen April 2010 und Januar 2011 mit dem Jay GaBanys 50-Zentimeter-Teleskop am Black Bird Observatory. Martínez-Delgado und seine Kollegen stellten außerdem im Januar 2011 Nachbeobachtungen am 8,2-Meter-Subaru-Teleskop auf Hawaii an und gewannen Bilder, auf  denen sich einzelne Sterne der kleineren Galaxie zeigen.

**********************

Wachstum im Fokus

Der kleinere Begleiter von NGC 4449 wurde im Jahr 2007 erstmals im Rahmen einer Suchkampagne für nahegelegene Zwerggalaxien entdeckt. Die Forscher vermuteten damals, es könne sich entweder um eine Zwerggalaxie handeln, die bei der Verschmelzung zweier größerer Galaxien Verzerrungen erlitten hatte, oder aber um eine Zwerggalaxie, die kurz davor stand, verschluckt zu werden. Die neuen, umfangreichen Untersuchungen der beiden Gruppen um Michael Rich und David Martínez-Delgado bestätigen, dass es sich in der Tat um einen Zwerg handelt, der NGC 4449 als Speise dient.

Das ist der erste sichere Nachweis einer Fusion von zwei Zwerggalaxien. Solche Verschmelzungen waren zwar als Mechanismus für die Entstehung von Zwerggalaxien im Gespräch gewesen. Alternativ glaubten manche Forscher jedoch, dass sich neue Sterne in solchen Galaxien direkt aus Gaswolken bilden, welche die Galaxie einfängt.

Die beobachteten Eigenschaften des verzerrten Begleiters von NGC 4449 – der sehr langgestreckt ist und schwach leuchtet – zeigen den Astronomen außerdem, wonach sie suchen müssen, um weitere Beispiele für Zwerg-Zwerg-Verschmelzungen zu finden.

Je weiter Astronomen in die Ferne schauen, umso weiter blicken sie auch in die Vergangenheit, denn das Licht ferner Objekte benötigt umso länger, uns zu erreichen, je weiter das betreffende Objekt entfernt ist. NGC 4449 steht mit einem Abstand von 12 Millionen Lichtjahren vergleichsweise nahe. Aus diesem Grund sehen wir die Zwerggalaxie und ihren Begleiter so, wie sie vor 12 Millionen Jahren aussahen.

Das zeigt, dass solche Verschmelzungen nicht nur in ferner Vergangenheit vorkamen – das Gesamtalter des Universums beträgt immerhin 13,7 Milliarden Jahre –, sondern auch in der gegenwärtigen Ära an der Tagesordnung sind. Solche Prozesse müssen daher einbezogen werden, wenn wir unsere kosmische Nachbarschaft beschreiben wollen.

MP / HOR

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht