Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen

Die genetische Grundlage der morphologischen Variation

Autoren
Nüsslein-Volhard, Christiane; Alsheimer, Soeren; Dooley, Christopher; Krauss, Jana; Harris, Matthew; Rohner, Nicolas; Frohnhöfer, Hans Georg
Abteilungen
Abteilung Genetik
Zusammenfassung
Darwins Theorie der Entstehung der Arten durch natürliche Selektion geht davon aus, dass in jeder Generation die Nachkommen variieren. Diejenigen setzen sich durch, die am besten an die sie umgebenden Bedingungen angepasst sind. Um die Gene zu finden, deren Mutationen die Grundlage für die Variation der Gestalt der Tiere in der Evolution sind, wollen Forscher verstehen, wie sich die äußere Form der Tiere während des Wachstums entwickelt. Dazu untersuchen sie mit genetischen Methoden die Stammzellen der Muskulatur sowie die Entwicklung von Hautstrukturen und des Farbmusters beim Zebrafisch.

Die Entwicklung des Zebrafisches

Als Untersuchungsobjekt dient der Zebrafisch, der als Modellorganismus dafür steht, wie ein Wirbeltierkörper aufgebaut wird, wächst und schließlich die äußere Gestalt bildet. Im Ei entwickelt sich eine Larve, deren einfache Form sich von der des ausgewachsenen Fisches in vielen Merkmalen unterscheidet. Erst nach einem Monat, wenn der kleine Fisch etwa einen Zentimeter lang ist, erscheint das schöne Streifenmuster, das dem Fisch den Namen gegeben hat.  Gleichzeitig entstehen auch die Schuppen und die meisten Flossen werden neugebildet. Dieser Prozess, der hauptsächlich die Bildung oder Umformung äußerer Strukturen des Integuments (Körperbedeckung, Haut) betrifft, wird Metamorphose genannt.

Wachstum der Muskulatur

Viele Strukturen des adulten Körpers entstehen aus Stammzellen, die während der Embryonalentwicklung angelegt werden. Beim Wachstum der Skelettmuskulatur spielen adulte Stammzellen, welche die Fähigkeit haben, sich selbst zu erneuern sowie neue Muskelfasern zu bilden, eine große Rolle.

Die Muskulatur des Fisches entsteht aus einem besonderen Teil des Mesoderms, dem Dermomyotom, das segmental angelegt ist. Der größte Teil der Zellen dieser embryonalen Anlage differenziert sich zu den ersten Muskelfasern der Fischlarve. Einige dieser Zellen verbleiben an den vertikalen Myosepten, Membranen, welche die zukünftigen Muskelpakete voneinander trennen. Diese sind die Muskelstammzellen, aus denen während der weiteren Entwicklung und des Wachstums neue Muskelfasern entstehen. In transgenen Fischen, die das grün-fluoreszierende Protein GFP unter der Kontrolle des Pax7 Promoters bilden, lassen sich diese Stammzellen sichtbar machen (Abb. 1). In Zeitrafferfilmen im lebenden Embryo wurde ihre Entwicklung verfolgt. Die Muskel-Stammzellen teilen sich nur äußerst selten, weniger als einmal in 5 Tagen. Dabei bleibt mindestens eine der Tochterzellen eine undifferenzierte Stammzelle, während die andere zu einer Muskelvorläuferzelle wird. Teilungen der Vorläuferzellen erfolgen etwas häufiger und führen zur Vermehrung und zum Wachstum der Muskelfasern.

Um Faktoren zu finden, die der Stammzelle ihre charakteristischen Eigenschaften – Selbsterneuerung und Verbleiben im undifferenzierten Zustand - verleihen, wurden die Stammzellen auf Grund ihrer grünen Fluoreszenz isoliert und ihre jeweiligen Transkriptome untersucht. In den Transkriptomen wurde eine Überexpression von einigen Genen, die Proteinkomponenten der extrazellulären Matrix kodieren, festgestellt. TenascinW, ein Bestandteil der vertikalen Myosepten, wurde genauer untersucht. Wird die Bildung von TenascinW künstlich gehemmt, verringert sich die Zahl der Stammzellen drastisch, weil sie sich schneller als sonst teilen und häufiger den Weg in die Differenzierung einschlagen als im normalen Embryo. Das zeigt, dass TenascinW eine essenzielle Funktion bei der Erhaltung der Stammzelleigenschaft hat: die Eigenschaft eines „Nischenfaktors“, der von den Stammzellen selbst gebildet wird. Diese Arbeiten stellen die erste in vivo Analyse des Teilungsverhaltens von somatischen Muskelstammzellen in einem Wirbeltier dar [1].

Genetische Analyse der Entwicklung von Flossen und Schuppen

Die Haut und ihre Organe - bei Fischen sind dies die Flossen, die Schuppen, der Schädel sowie das reiche Farbmuster - sind für die äußere Gestalt und das Aussehen des Tieres verantwortlich. In großangelegten Mutagenese-Experimenten wurde nach Mutanten gesucht, bei denen die Schädelform, die Entstehung der Schuppen, die Größe der Flossen oder Änderungen im Farbmuster betroffen sind (Abb. 2).

Mutanten zweier Gene, finless (fls) und Nackt (Nkt), haben einen gemeinsamen Phänotyp, bei dem die Flossenstrahlen, die Schuppen und die Zähne den ausgewachsenen mutierten Fischen fehlen. Die Gene kodieren den Rezeptor von Ectodysplasin (EDAR; fls) und Ectodysplasin (EDA, Nkt). Es war bereits bekannt, dass dieses Rezeptor-Liganden Paar bei Säugern bei der Haarbildung und Zahnentwicklung beteiligt ist. Mutationen in den menschlichen Homologen dieser Gene verursachen die Erbkrankheit Ectodysplasie, bei denen Haare und Zähne der Patienten betroffen sind [2].Beide Gene werden in Schuppen- sowie Flossenanlagen von Juvenilen wie ausgewachsenen Fischen transkribiert. Es konnte eine epidermale Struktur nachgewiesen werden, die über der dermalen Schuppenanlage liegt und in den Mutanten fehlt. Diese Struktur stellt offenbar eine bisher nicht beschriebene Flossenplakode dar, die zur Haarplakode in Säugern homolog ist.

Eine weitere Schuppen-Mutante ist spiegel. Bei dieser fehlen Schuppen, aber die Flossen und Zähne sind nicht betroffen. Dieser Phänotyp ähnelt dem einer Variante des Karpfens, dem Spiegelkarpfen, der seit dem Mittelalter wegen seiner Schuppenlosigkeit gezüchtet wird. Sowohl in der spiegel-Mutante als auch im Spiegelkarpfen konnten Mutationen im Gen des Fibroblast Growth Factor Rezeptor 1 (Fgfr1) gefunden werden. Das war überraschend, da Fgfr1 bei vielen essenziellen Prozessen während der Embryonalentwicklung beteiligt ist, weshalb Mutationen eigentlich zur Letalität führen sollten. Es stellte sich aber heraus, dass es bei Fischen zwei Kopien des fgfr1 Gens gibt, die wohl durch Genduplikation entstanden sind. Beide fgfr1 Gene sind bei der Embryonalentwicklung aktiv, aber nur eins der beiden, fgfr1a, ist in der Zebrafischmutante spiegel defekt. Nur dieses wird für die Schuppenbildung gebraucht. Seine Funktion bei der Embryonalentwicklung wird von fgfrb übernommen (Redundanz). Es wird vermutet, dass solche Fälle von Genduplikationen, bei denen die Duplikate während der späten Entwicklung unterschiedliche Funktionen übernehmen können (split functions), für die Variation der Gestalt bei der Artentstehung eine wichtige Rolle spielen [3].

Genetische Analyse der Bildung von Farbmustern

Farbmuster sind auffallende Eigenschaften vieler Tiere. Sie erfüllen verschiedene wichtige Funktionen, wie Schutz vor Sonnenstrahlen, Tarnung, Erkennung von Artgenossen, Schwarmbildung und sexuelle Attraktion. Bei Säugern und Vögeln gibt es nur einen Typ von Pigmentzellen, die Melanozyten, die in die Haut wandern und dort den dunklen Farbstoff Melanin produzieren, der die Haare oder Federn färbt. Dagegen haben Amphibien und Fische mehrere Typen von Pigmentzellen, bei denen unterschiedliche Pigmente in Zelleinschlüssen enthalten sind. Bei Fischen wird das Farbmuster von drei verschiedenen Zelltypen gebildet, die schwarze (Melanophoren), gelbe (Xantophoren) oder silbrig reflektierende (Iridophoren) Einschlüsse besitzen. Durch artspezifische mosaikartige Verteilung in einer Schicht in der Unterhaut kommt das Muster zustande.

Die Farbmuster der Fische sind besonders vielfältig, sie sind attraktiv für die Artgenossen und unterscheiden sich auch zwischen sehr nahe verwandten Arten, und: sie verändern sich schnell während der Evolution. Während der Metamorphose im juvenilen Fisch entsteht das Streifenmuster, das beim Zebrafisch aus längs angeordneten, alternierenden dunklen und hellen Streifen besteht. Im Gegensatz zu dem larvalen Muster ist es artspezifisch. Die Ursachen für die Entstehung der verschiedenen Muster sind noch wenig bekannt. Besonders aufschlussreich sind Zebrafisch-Mutanten, in denen die Farbmuster vom Normalen abweichen.

Herkunft der Pigmentzellen

Viele Strukturen, die dem Wirbeltierkörper Schönheit, Schutzfunktionen, unterschiedliche Körperformen und Gestalt verleihen, entstehen aus der Neuralleiste, eine embryonale Population von Stammzellen, die nur vorübergehend existiert. Dazu gehören die Knorpel und Kieferknochen des Kopfes, das periphere Nervensystem, Schwann Zellen und andere Glia, Hörner, Klauen und Zähne, und schließlich die Pigmentzellen.

Bei Wirbeltieren entstehen alle Pigmentzellen des Körpers (außer denen der Netzhaut) aus Zellen der Neuralleiste, die über dem sich bildenden Neuralrohr auf der Rückenseite des Embryos angelegt wird. Die Vorläuferzellen der Melanophoren wandern am ersten Tag in Richtung Bauchseite auf zwei Routen: Im Inneren des Embryo wandern Zellen in segmental angeordneten Strömen über das Neuralrohr und entlang den auswachsenden Motorneuronen, während andere außen zwischen Epidermis und Muskulatur wandern. Es konnte gezeigt werden, dass die Wanderung im Inneren durch Signale, die von den Motorneuronen ausgehen und aus dem Neuregulin-Signalsystem stammen, gesteuert wird. Diese sind auch für die Etablierung von Melanophoren- Stammzellen notwendig: Mutationen in den Rezeptoren Erbb2 und Erbb3 führen nicht nur zu Defekten im peripheren Nervensystem, sondern auch zu Farbausfällen im adulten Fisch. Die Vorläufer der adulten Melanophoren wandern, ausgehend von den Ganglien des peripheren Nervensystems, entlang den Nervensträngen zwischen den Muskelpaketen in die Haut, wo sie sich schließlich zu Streifen anordnen. Es wurden Melanophor-Stammzellen, die in jedem Segment direkt an den Ganglien des peripheren Nervensystems lokalisiert sind, nachgewiesen. Diese sind in Mutanten des Kit-Signalsystems nicht vorhanden, und sie fehlen auch in Mutanten des Neuregulinsystems.

Farbmutanten

Eine der am längsten bekannten Pigmentierungsmutanten ist albino, bei der die Melanophoren unpigmentiert sind. Albino kodiert ein Protein der Solute-Carrier Familie. Deren Funktion ist es, kleine Moleküle in und aus intrazellulären Organellen zu transportieren. Das albino-Protein ist bei der Einstellung des pH Werts der Melanosomen beteiligt; sein Optimum ist für die Katalyse der Melaninsynthese durch das Enzym Tyrosinase notwendig. Das menschliche Homologe des albino Gens ist die Grundlage einer besonders in Japan verbreiteten Form des oculocutanen Albinismus 4, bei dem auch die Sehfähigkeit der Patienten betroffen ist [4].

Bei einer anderen Klasse von Mutanten ist jeweils einer der drei Zelltypen betroffen. So fehlen in nacre die Melanophoren, in pfeffer die Xanthophoren und in transparent die Iridophoren (Abb. 3). Interessant ist, dass in Abwesenheit eines Zelltyps die noch vorhandenen Pigmentzellen keine ordentlichen Streifen bilden können [5]. Eine Streifenbildung der Pigmentzellen kann aber erfolgen, wenn in die Mutante früh in der Entwicklung Vorläuferzellen des in der Mutante fehlenden Zelltyps transplantiert werden. Das gilt für alle drei Zelltypen. Das heißt, dass die Anordnung der Pigmentzellen in Form des Streifenmusters eine Wechselwirkung zwischen den drei Zelltypen erfordert.

Zukünftig wird untersucht, welche molekularen Mechanismen dieser Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Pigmentzelltypen zu Grunde liegen.

Buckingham, M.; Relaix, F.
The role of Pax genes in the development of tissues and organs: Pax3 and Pax7 regulate muscle progenitor cell functions
Annual Review of Cellular and Developmental Biology 23, 645-673 (2007)
Harris, M. P.; Rohner, N.; Schwarz, H.; Perathoner, S.; Konstantinidis, P.; Nusslein-Volhard, C.
Zebrafish eda and edar mutants reveal conserved and ancestral roles of ectodysplasin signaling in vertebrates
PLoS Genetics 4, e1000206 (2008)
Rohner, N.; Bercsenyi, M.; Orban, L.; Kolanczyk, M. E.; Linke, D.; Brand, M.; Nusslein-Volhard, C.; Harris, M. P.
Duplication of fgfr1 Permits Fgf Signaling to Serve as a Target for Selection during Domestication
Current Biology 19, 1642-1647 (2009)
Newton J. M.; Cohen-Barak O.; Hagiwara N.; Gardner J. M.; Davisson M. T.; King R. A.; Brilliant M. H.
Mutations in the human orthologue of the mouse underwhite gene (uw) underlie a new form of oculocutaneous albinism, OCA4
American Journal of Human Genetics 69, 981-988 (2001)
Maderspacher, F.; Nusslein-Volhard, C.
Formation of the adult pigment pattern in zebrafish requires leopard and obelix dependent cell interactions
Development 130, 3447-3457 (2003)
Zur Redakteursansicht