Warum ein Wollknäuel im Computer Kunststoffe verbessern könnte

Eigenschaften von Kunststoffen lassen sich mit einem von Max-Planck-Wissenschaftlern entwickelten Programm zuverlässiger vorhersagen

10. Februar 2004

Die elastischen Eigenschaften von Polymer-Kunststoffen hängen von den strukturellen Besonderheiten ihrer molekularen Bausteine ab. Wie verknäuelte Spaghettis können sich diese kettenförmigen Polymermoleküle nur aneinander vorbei, aber nicht durch einander hindurch bewegen. Doch welche Länge und Struktur der Moleküle zu welchen konkreten Eigenschaften führt, konnte man bisher nicht voraussagen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Ralf Everaers (jetzt Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme, Dresden), Gary S. Grest (Sandia National Laboratories, USA) und Kurt Kremer vom Max-Planck-Institut für Polymerforschung, Mainz, hat jetzt ein numerisches Verfahren entwickelt, mit dem man erstmals aus der molekularen Struktur der Polymere bestimmte makroskopischen Eigenschaften vorhersagen kann (Science, 6. Februar 2004). Das Verfahren beruht auf der konsistenten, simultanen Analyse des Verknotungszustandes aller Polymere in einer simulierten Schmelze, die alle ansonsten nicht komplett zu erfassenden Interaktionen zwischen den unzähligen Ketten vollständig berücksichtigt. Mit dem neuen Algorithmus ist man jetzt in der chemischen Industrie und Forschung, aber auch in der biomedizinischen Grundlagenforschung in der Lage, die viskoelastischen Eigenschaften vieler wichtiger Polymerklassen zu beschreiben, wie ein ausführlicher Vergleich zwischen experimentellen und Simulationsergebnissen bereits gezeigt hat.

Das Verhältnis zwischen den komplexen viskoelastischen Eigenschaften von Polymeren und ihrer mikroskopischen Struktur und Dynamik ist eine Schlüsselfrage sowohl in der modernen Materialforschung als auch bei der Analyse biologischer Makromoleküle, wie Aktin oder DNA. Viskoelastisch bezeichnet man das Verhalten von Materialien, die bei langsamer Kräfteeinwirkung zäh wie eine hochviskose Flüssigkeit reagieren, bei plötzlicher mechanischer Spannung dagegen elastisch wie ein Festkörper. So sind die viskoelastischen Eigenschaften von Polymeren für die Herstellung von Kunststoffprodukten jeglicher Art von großer Bedeutung.

Ob es sich um die Zähigkeit polymerer Werkstoffe, ihre Verarbeitungs- oder Fliesseigenschaften während der Produktion von Spritzgussteilen, den Abrieb von Präzisionsbauteilen in Chemie, Technik oder Medizin, die Elastizität von Gummi oder Gelen und damit auch der Textur vieler Lebensmittel handelt, oder um die Elastizität von Aktin-Netzwerken in lebenden Zellen, immer spielen dabei Verhakungen oder Verknotungen zwischen Polymeren eine entscheidende Rolle. Diese Verquickungen basieren darauf, dass die sehr langen mehr oder weniger flexiblen fadenförmigen Moleküle zufällig miteinander verknäuelt sind und bei ihrer thermischen Bewegung zwar an einander entlang rutschen, sich aber nicht durchkreuzen können, denn dafür müssten chemische Bindungen gebrochen werden.

Um diese Eigenschaften der Polymere zu erklären, hat der britische Physiker Sir Sam Edwards (Jahrgang 1928), Cambridge University, schon vor über 30 Jahren das "Röhrenmodell" für diese Substanzen entwickelt. Danach ist die Beweglichkeit von Polymeren senkrecht zu ihrer Kontur auf den mittleren Durchmesser einer Röhre beschränkt - bedingt durch die Anwesenheit anderen Molekülketten und ihre Verknotungen untereinander. Diese Röhre folgt in ihrem Verlauf der gemittelten Form des Polymer-Moleküls (vgl. Bild 2).

Erweiterungen des Röhrenmodells führten später zum so genannten Reptationsmodell (engl.: reptation = Schleichen, Schlängeln) von deGennes (Nobelpreis 1991), wonach sich Polymerketten schlangenförmig entlang der Röhre bewegen. Mit Hilfe dieser eingeschränkten Dynamik lässt sich zwar erklären, dass Polymere viskoelastisch sind, doch der Röhrendurchmesser ist dabei ein anpassbarer Parameter, d.h er kann immer nur nachträglich und dann mit recht großer Ungenauigkeit abgeleitet bzw. bestimmt werden. Genau hier liegt das entscheidende Problem, will man das Wechselverhältnis zwischen mikroskopischer Struktur und makroskopischen Eigenschaften von Polymeren verstehen. Eine Grundfrage in Biologie und Technik ist gleichermaßen: Wie kann man Verknotungen von Polymerketten quantifizieren? Welche dieser Verknotungen tragen auf welche Weise zum viskoelastischen Verhalten der Polymere bei?

Analytische Theorien, die sich damit beschäftigen, wie zwei Fäden miteinander verknäuelt sind, können dieses äußerst komplexe Problem schon aus grundsätzlichen Gründen nicht lösen. Das illustrieren die Borromäischen Ringe (s. Abb. 3), die paarweise miteinander verknotet sind, sich aber dennoch nicht trennen lassen. Analoges gilt für eine Beschränkung auf zwei, drei oder mehr Ketten. Damit sind einer rein analytisch-theoretischen Betrachtungsweise von Polymeren sehr enge Grenzen gesetzt.

Das neu entwickelte Simulationsverfahren ermöglicht es nun, den Verknotungszustand aller Polymere in einer simulierten Schmelze simultan zu analysieren und Aussagen über die Eigenschaften dieser Polymermischung zu treffen. Das hat unmittelbar wirtschaftliche Bedeutung, zum Beispiel für die chemische oder die verarbeitende Industrie, da dieser Zustand sowohl die Material- als auch die Verarbeitungseigenschaften (z.B. bei der Extrusion) ganz entscheidend mitbestimmt. "Wir sprechen hier von sehr weit verbreiteten Materialien, aus denen heute vom Plastikeimer über CDs bis hin zu Mikro- und Nanostrukturen in der (Bio-) Technologie viele Gegenstände erzeugt werden," betont Prof. Kurt Kremer, Direktor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. "Das Verfahren erlaubt zudem auch Vorhersagen für neue, bisher nicht im Detail untersuchte Polymere."

Obwohl diese Methode von beträchtlichem ökonomischen Nutzen sein könnte, haben die Wissenschaftler ihr neues Verfahren nicht geschützt. "Diese Computersimulationen sind nur für sehr fachkundige Interessenten nutzbar, ob in der öffentlich finanzierten Grundlagenforschung oder in der Anwendung in der Industrie wie beispielsweise in Leverkusen oder Ludwigshafen", erklärt Kremer. "Wegen der Allgemeingültigkeit wäre eine Patentierung gerade der nicht-ökonomische Weg für den effektiven Transfer zur Anwendung." Vielmehr setzen die Mainzer Forscher auf den "Transfer über Köpfe" durch die kontinuierliche Heranbildung hochqualifizierter Nachwuchswissenschaftler an ihrem Institut.

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