Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Von künstlichen Flagellen zu medizinischen Mikrobots – der Beginn einer „phantastischen Reise“

Autoren
Fischer, Peer
Abteilungen
Mikro-, Nano- und Molekulare Systeme
Zusammenfassung
In wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Artikeln wird oft spekuliert, ob ferngesteuerte Mikroroboter (Microbots) durch den menschlichen Körper geschickt werden können. Dies würde die (Mikro-)Medizin revolutionieren. Wir bringen Milliarden von mikrometergroßen, chiral-kolloidalen Schraubenpropellern auf einem Wafer auf. Dann magnetisieren wir sie und lassen sie mit Hilfe von computergesteuerten Magnetfeldern durch Lösungen fahren. Ähnlich künstlichen Flagellen, sind sie bis jetzt die einzigen Microbots, die in Flüssigkeiten mit Mikrometerpräzision gesteuert werden können.

Leben basiert auf komplexen Makromolekülen, die sich selbst zu dreidimensionalen, funktionierenden Strukturen zusammenbauen können. Der Flagellenmotor eines Bakteriums ist ein solches Beispiel, wo die Natur es geschafft hat, auf 45 nm einen Rotationsmotor samt Rotationsachse, Lager und Antriebsmechanismus zu konstruieren [1]. Dieser Motor dreht sich mit einer höheren Drehzahl als die eines Automotors und treibt Rotationsgeißeln (Flagellen) an, die es einer Bakterienzelle ermöglichen, sich durch flüssige Medien mit einer Geschwindigkeit von 20 Körperlängen (ca. 40 µm) pro Sekunde zu bewegen. Dies entspräche einer Schwimmgeschwindigkeit von 120 km/h bei einem Menschen. Der Bau einer solch komplexen Maschine auf diesen Längenskalen mit Hilfe von chemischer Synthese und Nanotechnologie ist derzeit allerdings noch nicht denkbar. Zwar ermöglicht es die Nanotechnologie, auf definierten Oberflächen im Vakuum einzelne Moleküle zu bewegen, aber die Herstellung, Fortbewegung und präzise Steuerung von kleinen Strukturen in Flüssigkeiten stellen eine ganz besondere Herausforderung dar.

Warum gibt es noch keine Nano-U-Boote? Schließlich hat der mit einem Oskar für Spezialeffekte ausgezeichnete Science-Fiction-Film The phantastic voyage schon 1966 ein Gefährt vorgestellt, mit dem eine minimalinvasive Reise ins Gehirn unternommen wird. Andere Zukunftsvisionen spekulieren auf ähnliche Vehikel, die sich in menschlichen Blutgefäßen bewegen und dort dem Arzt der Zukunft bei der Diagnose und Therapie assistieren sollen. Es stellen sich eine Vielzahl spannender Fragen: Sind auf der Mikroskala andere physikalischen Kräfte von Bedeutung und erklärt dies die besondere technische Herausforderung? Was sind geeignete Bauteile für solche Kleinstmaschinen und wie kann man die herstellen? Warum ist es bislang kaum möglich, auf diesen kleinen Längenskalen verschiedenste Materialien dreidimensional zu strukturieren? Woher kommen die Antriebskraft und das Steuervermögen? Wie könnten solche Systeme der Menschheit dienen? Das Labor für Mikro-, Nano- und Molekulare Systeme am MPI für Intelligente Systeme in Stuttgart möchte sich mit einem interdisziplinären Team an Physikern, Chemikern, und Mikro- und Bio-Ingenieuren diesen Aufgaben stellen.

In seinem Vortrag zum Leben auf kleinen Skalen (life at low Reynolds number) ist der Harvard-Physiker Ed Purcell dieser Frage nachgegangen: Wie schwimmt ein Mikroorganismus? [2]. Abbildung 1 zeigt schematisch, welche physikalische Größe von Bedeutung ist. Abgebildet ist die Reynoldszahl Re für einen schwimmenden Menschen, einen Fisch und eine Bakterienzelle. Diese dimensionslose Größe der Fluiddynamik beschreibt, wie sich die Trägheitskraft relativ zur Widerstandskraft (Viskosität) verhält. Man sieht, wie die Reynoldszahl mit der Größe des Objektes abnimmt. Die Zähigkeitskraft für eine Bakterienzelle ist somit etwa hundert Millionen Mal größer als die für einen Menschen. Sie ist auf kleinen Skalen so dominierend, dass eine Schwimmbewegung, die uns vorantreibt, ein Bakterium nicht bewegen könnte. Wasser ist für Mikroorganismen wie ein zäher Sirup und erfordert einen zeitlich nicht umkehrbaren Geißelschlag beim Spermium, und das Bakterium „schraubt“ sich buchstäblich durch das Wasser. Damit ist auch klar, dass ein Nano-U-Boot für eine phantastische Reise einen anderen Antriebspropeller benötigt als eine herkömmliche Schiffschraube.

 

Soll nun eine Flagellenschraube nachgebaut werden, bedarf es einer dreidimensionalen Nanostrukturierung. Obwohl Computerchips schon mit 22-Nanometer-Technologie gefertigt werden, sind dies jedoch stets planar geordnete Strukturen. Die Herstellung von artifiziellen Flagellen erfordert deshalb besondere Methoden.

Noch am Rowland Institute der Harvard University hat der Autor deshalb zusammen mit seinem damaligen Post-Doc eine Schattenaufdampfmethode implementiert, die es erlaubt, eine Vielzahl von geometrischen Formen zu nanostrukturieren und zwar in 3D. Wie in Abbildung 2 schematisch dargestellt, wird ein Material auf ein stark gewinkeltes Substrat aufgedampft. Durch einen geometrischen Schattenwurf wird das Wachstum lokalisiert. Eine Computersteuerung lässt das Substrat während des Wachstumsprozesses sich ausrichten und drehen. Auf diese Weise sind die Glasschrauben entstanden, die in Abbildung 2 zu sehen sind. Gegenüber herkömmlicher Zweiphotonen- oder Elektronenstrahllithografie können mit diesem Verfahren eine Vielzahl von Materialen auf großen Flächen (> 50 cm2) bearbeitet werden. Silizium, Oxide, magnetische Materialien, Metalle und Legierungen lassen sich gezielt nanostrukturieren.

 

Wie steuert man einen Nanopropeller? Wie ist es möglich, solche kleinen Objekte durch Flüssigkeiten zu bewegen? Eine elegante Lösung wäre eine chemische Reaktion in Wasser mit biologischen Molekülen als Kraftstoff. Bisher ist dies allerdings nur in sehr starken Säuren durch zersetzende Reaktionen möglich gewesen. Selbst chemische Schwimmer bedürfen externer Felder, um sich steuern zu lassen. Es bietet sich deshalb an, den Antrieb und die Steuerung zugleich mit einem Magnetfeld zu bewerkstelligen. Indem die Glasschrauben von Abbildung 2 magnetisiert werden, lassen sie sich mit einem kleinen Magnetfeld drehen und lenken. In der Praxis bedarf dies computergesteuerter Magnetspulen, die die Nanopropeller auf kleinstem Raum präzise fahren lassen, wie dies in Abbildung 3 gezeigt wird.

 

Wohin geht die Reise? Neben faszinierenden fundamentalen Fragen, die sich für jegliches „Leben in niederen Reynoldszahlen“ stellen, ist es von großem Interesse, weitere 3D-Fabrikationsmethoden zu entwickeln, die es ermöglichen sollen, komplexe Objekte auf kleinsten Skalen zu realisieren. Idealerweise sollte dies mit biologisch-kompatiblen Werkstoffen möglich sein. Dies würde es z. B. erlauben, kolloidale Moleküle und komplexe Bauteile herzustellen, die nicht chemisch synthetisiert werden können. Ob damit „intelligente“ Mikrosysteme gebaut werden können, die autonom Reaktionen beeinflussen, sich bewegen, ihre Umgebung erkunden, kommunizieren und minimal invasiv uns zu Nutze kommen, soll erforscht werden. Die phantastische Reise dieses Forschungsgebiets hat erst begonnen.

Berg, H. C.
The rotary motor of bacterial flagella
Annual Review of Biochemistry 72, 19-54 (2003)
Purcell, E. M.
Life at low Reynolds number
American Journal of Physics 45, 3-11 (1977)
Fischer, P.; Gosh, A.
Magnetically actuated propulsion at low Reynolds numbers: towards nanoscale control
Nanoscale 3, 557-563 (2010)
Ghosh, A.; Fischer, P.
Controlled Propulsion of Artificial Magnetic Nanostructured Propellers
Nano Letters 9, 2243-2245 (2009)
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