Auch die Letzten können die Ersten sein

Max-Planck-Mathematiker beweisen: In der Evolution siegen nicht immer nur die Schnellsten

17. Januar 2003

Bisher sind Evolutionsbiologen davon ausgegangen, dass es für eine Tierart in der Evolution von Vorteil ist, sich im Vergleich zu anderen schneller zu entwickeln, besser anzupassen und rasch zu lernen. In der internationalen Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States" belegen jetzt Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften in Leipzig sowie von der University of Washington/USA, dass dies nicht immer der Fall ist (PNAS, 21. Januar 2003).

Den Wettlauf zwischen Wirt und Parasit bezeichnet man heute in der Evolutionsbiologie als "Red Queen"-Prinzip, nach einer Figur in Lewis Carroll’s Kinderbuch "Alice hinter den Spiegeln". In dieser Spiegelwelt muss man sich möglichst schnell bewegen, um überhaupt an Ort und Stelle stehen bleiben zu können. "Now here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!" Auch in der Evolution findet dieser scheinbar sinnlose Wettlauf statt: Arten, die in der Lage sind, sich schneller anzupassen als ihr Gegenspieler, gewinnen die Oberhand. Doch neuere Forschungen zeigen nun, dass dies nicht der Fall ist, wenn man symbiotische Beziehungen zwischen verschiedenen Spezies betrachtet. Zwar findet auch hier ein ständiger Wettkampf statt. Doch zahlt es sich in diesen Beziehungen, in denen die eine auf die andere Art angewiesen ist, durchaus aus, langsamer zu sein, da sich die schneller entwickelnde Art nach und nach an die Bedürfnisse der sich langsam entwickelnden anpassen wird.

Symbiotische Wechselbeziehungen, in denen eine Spezies der anderen zu Diensten ist, gibt es in der Natur in Hülle und Fülle. Beispiele gibt es überall: Von den Mitochondrien, einst frei-lebende Bakterien, die heute in unseren Körperzellen Energie aus der Verdauung von Zucker liefern, über Pilze, die Pflanzen in die Lage versetzen, Stickstoff aus der Erde aufzunehmen, bis hin zu Ameisen, die Schmetterlingsraupen gegen Feinde schützen und dafür hochwertige Nahrung erhalten. In diesem konkreten Fall haben die Ameisen einen beträchtlichen Vorteil davon, Schmetterlingsraupen gegen todbringende Parasiten zu schützen. Denn im Gegenzug investieren die Raupen einen Großteil ihrer Energie in die Produktion von Zucker- und Protein reichen Sekreten, die den Ameisen als Nahrungsquelle dienen. Doch wer profitiert bei einem solchen Tauschhandel am meisten? Sind es die Ameisen, wenn sie nur minimalen Schutz gewähren und sich dafür viel Nahrung nehmen? Oder ist es die Raupe, wenn sie sich von den Ameisen maximal beschützen lässt, selbst aber bei der Nahrungsvergabe geizt?

Michael Lachmann vom Leipziger Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften und Carl Bergstrom von der University of Washington untersuchten diese Frage mit Hilfe eines mathematischen Modells aus der evolutionären Spieltheorie. In solchen Modellen hängt die allgemeine Fitness aller Mitspieler vom Erfolg jedes Einzelnen im Spiel ab. Dazu verallgemeinerten sie das Verhalten jeder Spezies als "großzügig", wenn sie vom Gewinn an andere abgibt, und als "egoistisch", wenn es immer nur um den maximalen Gewinn des einzelnen geht. In einer Symbiose profitieren zwei Arten am meisten, wenn sie sich abstimmen, wer sich "egoistisch" oder "großzügig" verhalten soll. Anderenfalls ist der Gewinn für beide suboptimal - wenn also beide entweder "egoistisch" oder "großzügig" sind.

Sind alle Mitglieder der Population großzügig und die der anderen Spezies alle egoistisch, kann es keinen evolutionären Wandel geben, da keine Spezies aus einer Veränderung ihres Verhaltens einen Vorteil ziehen könnte. Treten jedoch die Kombinationen egoistisch-egoistisch oder großzügig-großzügig in einigen Fällen auf, kann die Evolution weitergehen. Sind viele der Paare vom Typ "großzügig-großzügig", wird die schneller entwickelnde Spezies sehr rasch egoistisch werden. In dieser Population hätten also die Schnellentwickler Vorteile. Gibt es andererseits mehr Paare der Art "egoistisch-egoistisch", wird die sich schneller entwickelnde Spezies sehr rasch großzügig (da großzügig-egoistisch besser ist als egoistisch-egoistisch), so dass in dieser Population die Langsamentwickler begünstigt werden.

Lachmann und Bergstrom gaben diesem überraschend entdeckten Prinzip den Namen "Red King-Effekt": Er besagt, dass in Beziehungen zwischen Arten, die ihre Strategien miteinander koordinieren müssen, es sich nicht unbedingt lohnt, der Schnellere zu sein. Vielmehr hat in vielen Fällen dann der Langsamentwickler Vorteile. Doch es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Langsamen dann gewinnen: Jede Spezies entwickelt sich am besten, wenn sie selbst egoistisch ist und die anderen großzügig. Dann kann man erwarten, dass die meisten Individuen einer Spezies aus Umgebungen stammen, in denen sie egoistisch waren. Das bedeutet, dass es ein Ungleichgewicht zugunsten der egoistisch-egoistischen Paare gibt, was wiederum die Langsamentwickler begünstigt.

In bestimmten evolutionären Szenarios muss man sich so schnell wie möglich entwickeln, um am gleichen Platz stehen zu bleiben, wie es die Rote Königin bei Lewis Carroll sagen würde, und in anderen Szenarios zahlt es sich aus, nur einen Schritt nach dem anderen zu machen, wie es der Rote König tun würde, und geduldig darauf zu warten, dass der andere den großen Schritt macht.

"Das Red King-Modell ist auch für die evolutionäre Ökonomie von Interesse. So ist es im Handel manchmal von Vorteil, an die Hand seines Partners bereits "gebunden" zu sein ("one's hands tied"). Von daher trifft es auf Individuen oder Unternehmen zu, die eng miteinander agieren, und deren Interaktion zu unterschiedlichen Ergebnisse führen kann - seien es feste Vereinbarungen oder stabile Beziehungen," meint Michael Lachmann.

Die Untersuchung von Evolution und Lernen in biologischen Systemen gehört zum Forschungsschwerpunkt "Dynamik komplexer Systeme" am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften. Weitere Forschungsthemen des Instituts sind Dynamik neuronaler Netzwerke, Informationsverarbeitung und Lernen in kognitiven Systemen, Synchronisation und Zeitverzögerung in komplexen Systemen, Analyse genetischer Netzwerke, mathematische Modelle der Chemotaxis, sowie das Wachstum von Tumoren.

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