Die Verschiebebahnhofpolitik in der sozialen Sicherung hat ausgedient

Studie am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung fordert "Ende des Tunnelblicks" und ganzheitliche Reform der Sozialversicherung in Deutschland

20. Februar 2003

Die Studie beschreibt die langjährige Praxis der Verschiebung von Einnahmen, Aufgaben und Ausgaben zwischen der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, der Bundesanstalt für Arbeit und dem Bundeshaushalt. Die Autorin, die Politikwissenschaftlerin Dr. Christine Trampusch, kommt zu dem Schluss, dass jegliche Reform, die sich nur auf einen der Sozialversicherungszweige bezieht, die Krise des bundesdeutschen Sozialversicherungssystems weiter verschärft, anstatt ihr entgegenzuwirken (MPIfG Discussion Paper 03/1).

Der desolate Zustand des bundesdeutschen Sozialversicherungssystems lässt sich zum großen Teil darauf zurückführen, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Sozialversicherungshaushalte und der Haushalt des Bundes durch Aufgaben- und Kostenverlagerungen voneinander abhängig gemacht wurden. Seit Mitte der sechziger Jahre wurden der Bundeshaushalt und die Sozialversicherungshaushalte durch wechselseitige Finanzspritzen stabilisiert. Dr. Christine Trampusch, Politikwissenschaftlerin am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG), bezeichnet diese Praxis als Stabilisierungs-, Konsolidierungs- und Belastungsverschiebungspolitik.

Beispielsweise wurden die Beitragssätze zur Renten- und zur Bundesanstalt für Arbeit aufeinander bezogen: Eine Senkung hier wurde durch eine Erhöhung dort finanziert. In den siebziger Jahren finanzierte man die Rentenversicherung unter anderem mit Hilfe eines Finanzpolsters der Arbeitslosenversicherung. Mittlerweile sind die Budgets durch zahlreiche und immer komplexer gewordene Finanzbeziehungen eng miteinander verkoppelt. Hinzu kommt, dass sich in den neunziger Jahren der Trend verstärkt hat, die Sozialversicherungshaushalte zu Lasten des Bundeshaushalts zu konsolidieren (die so genannte Re-Konsolidierungspolitik). Trampusch: "Nun gerät auch der Bundeshaushalt in eine immer größere Abhängigkeit von der Sozialversicherung." Diese wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen dem Bund und den Sozialversicherungen machen Krisen der Sozialversicherungshaushalte heutzutage wiederum zu Krisen des Bundes und umgekehrt.

Die Verschiebehahnhofpolitik dient jedoch nicht nur dazu, die Haushalte wechselseitig zu konsolidieren. "Sie trägt dazu bei, die Sozialversicherung in ihrer gegenwärtigen Form trotz grundlegender Strukturprobleme zu erhalten", stellt Christine Trampusch fest. Das erkläre, warum der Verschiebebahnhof so lange bestehen konnte. "Es hat nie jemand nein gesagt." Der Verschiebebahnhof sicherte die Finanzierung der Sozialpolitik und trug so beispielsweise dazu bei, dass die Sozialpartner ihre Frühverrentungsmaßnahmen im Zuge des Strukturwandels in der Industrie durch Sozialversicherungsbeiträge finanzieren konnten. "Das war im Interesse vieler, auch der Politik, da einschneidende Reformen die Wiederwahl gefährden und der Bund den Steueranteil in der Sozialpolitik grundsätzlich gering halten will."

Deshalb können die aktuellen Strukturprobleme nur durch eine Entflechtung gelöst werden: Um die Beitragsbelastung zu senken, müssen Leistungen, die nicht zum originären Aufgabenbereich der einzelnen Versicherungszweige gehören, durch Steuern finanziert werden. Die Reformüberlegungen müssen auch die Beziehungen zwischen Sozialhaushalten und Bundeshaushalt insgesamt berücksichtigen. Dem trägt die aktuelle politische Entwicklung nur unzureichend Rechnung. So beschränkt sich die Hartz-Kommission in ihren Reformvorschlägen allein auf die Bundesanstalt für Arbeit. Der Auftrag der Rürup-Kommission bezieht sich auf die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung und lässt wiederum die Arbeitslosenversicherung und den Bundeshaushalt unberücksichtigt. Christine Trampusch resümiert: "Wenn die Politik bei Strukturreformen weiterhin bei ihrem Tunnelblick bleibt, wird sie eine Senkung des Gesamtsozialbeitrages und damit der Lohnnebenkosten nicht erreichen."

Weil die Haushalte eng gekoppelt sind, zieht jegliche Strukturreform, die sich allein auf einen Teilbereich bezieht, Folgeprobleme nach sich. Eine Senkung der Beiträge zur Renten-, zur Kranken- oder zur Pflegeversicherung oder zur Bundesanstalt für Arbeit erfordert Einschnitte in die jeweiligen Leistungen. Wenn man jedoch Leistungen kürzt (zum Beispiel Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld, Rente), sinken die Beitragseinnahmen noch mehr, weil Leistungskürzungen die Beitragszahlungen der Leistungsempfänger reduzieren. Im nächsten Schritt müssen daher wieder Maßnahmen getroffen werden, die diesem Effekt entgegenwirken, damit das System nicht kollabiert. Was einst als Bündnis zwischen Bund und Sozialpartnern für die nachhaltige Finanzierung der Sozialversicherung begann, hat sich mittlerweile - wegen des hohen Gesamtsozialbeitrags und der komplexen Finanzbeziehungen zwischen den Haushalten - zu einem Bündnis dagegen entwickelt.

Christine Trampusch untermauert ihre Argumentation durch eine umfassende Datensammlung. Sie analysierte eine Reihe von sozialpolitischen Gesetzen, die der Bundestag zwischen 1964 und 2000 verabschiedete, unter dem Aspekt der Verschiebebahnhofpolitik. In Fallstudien wird aufgezeigt, wie die Bundesanstalt für Arbeit zur Bewältigung von Krisen der Rentenversicherung herangezogen wurde und wie umgekehrt die Rentenversicherung half, die Arbeitsmarktpolitik zu finanzieren. Anhand einer detaillierten Analyse der personellen Verflechtungen zwischen Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und der Karrieren von Sozialpolitikern sowie mit Hilfe einer Auswertung von Bundestagsdebatten und Wortprotokollen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung lassen sich Schlüsse über die Interessenkoordinierung zwischen Staat und Verbänden ziehen.

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