Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik

Verschieden – gleich – verschieden: Die Sanduhr der Embryonalentwicklung

Autoren
Tomancak, Pavel
Abteilungen
Patterns of gene expression in animal development (Tomancak Lab)
Zusammenfassung
In einer bestimmten Phase der Entwicklung sind die Embryonen verschiedener Tierarten innerhalb eines Stamms äußerlich kaum unterscheidbar. Dabei findet sich die größte Ähnlichkeit in der Mitte der Embryonalentwicklung; vorher und nachher dominieren die artspezifischen Unterschiede. Das Bild der Sanduhr veranschaulicht diesen Befund, weshalb man auch vom Sanduhr-Modell spricht. Untersuchungen der Expressionsmuster von Schlüsselgenen der Entwicklung zeigen, dass sich dieses Muster auch auf molekularer Ebene wiederholt und offensichtlich auch von der natürlichen Selektion konserviert wird.

Schon 1828 schrieb Karl Ernst von Baer seine Beobachtung nieder, dass sich Embryonen verschiedener Tierarten zunächst sehr ähnlich sehen, ehe sie charakteristische Unterschiede ausbilden. Ernst Haeckel machte daraus seine biogenetische Grundregel, die besagt, dass sich in der individuellen Entwicklung eines Lebewesens (der Ontogenie) die gesamte Stammesgeschichte (Phylogenie) wiederhole. Wenn auch diese Rekapitulationstheorie mittlerweile als überholt gilt, so erahnte Haeckel dennoch schon, was später verfeinert und ergänzt wurde: Es gibt variantenreiche Unterschiede zwischen Embryonen verschiedener Arten in den frühen und späten Entwicklungsphasen, hingegen eine hohe Ähnlichkeit in der Mitte der embryonalen Entwicklung – wie bei einer Sanduhr läuft dieses Muster in der Mitte zusammen. Die engste Stelle der Sanduhr – die Phase mit der größten Ähnlichkeit zwischen Embryonen verschiedener Tierarten – entspricht dem sogenannten phylotypischen Stadium.

Bisher gab es keinerlei Untersuchungen zu den genetischen Grundlagen der Formel „verschieden-gleich-verschieden“; daran haben sich Forscher aus der Arbeitsgruppe von Pavel Tomancak am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden gemacht und stellten das Sanduhr-Modell mit quantitativen Methoden auf den Prüfstand: Sie untersuchten mittels DNA-Microarrays die Aktivität von 3.019 Genen in verschiedenen Entwicklungsstadien von sechs Drosophila-Arten, die sich teils bereits vor über 40 Millionen Jahren evolutionstechnisch auseinanderentwickelt hatten. Zwar sehen sich diese Fruchtfliegen äußerlich sehr ähnlich, ihre Genome und damit ihre Genregulation allerdings unterscheiden sich sehr. Die Forscher sammelten im Zwei-Stunden-Takt Daten dazu, welche Gene gerade angeschaltet sind und wie die genetische Information während der Entwicklung umgesetzt wird, und zeichneten dann für jedes Gen ein eigenes Zeitprofil. Beim Vergleich der Aufzeichnungen zeigte sich: Die genetischen Expressionsmuster verschiedener Embryonen sind sich ebenfalls in der phylotypischen Periode am ähnlichsten – vorher und nachher unterscheiden sie sich deutlicher.

Entwicklung und Evolution

Auffallend bei einer genaueren Analyse der verschiedenen Expressionsmuster war, dass speziell die Gene das Sanduhr-Modell am deutlichsten nachzeichnen, die grundlegende Entwicklungsprozesse steuern, etwa an der Ausbildung des Körperplans der Fruchtfliege beteiligt sind. Im phylotypischen Stadium wird die Divergenz der Expressionsmuster heruntergefahren und sie zeigt sich weitaus widerstandsfähiger gegenüber Veränderungen, während die Variabilität vorher und nachher ansteigt. Wie und warum diese Einschränkung der Divergenz der Expressionsmuster in der Mitte der Embryogenese zustande kommt, ist unklar – wird das phylotypische Stadium gezielt durch eine starke stabilisierende Selektion hervorgerufen oder ergibt sie sich eher zufällig durch die mechanischen Begrenztheiten während der Entwicklung? Bei allen noch offenen Fragen untermauern die Daten die jahrhundertalten anatomischen Beobachtungen mit genetischen Fakten, zudem geben sie Anhaltspunkte dazu, wie Entwicklung und Evolution zusammenspielen – bisher gab es keine Untersuchungen dazu, wie sich unterschiedliche Genexpressionsmuster auf die Vielfalt von Form und Struktur von Organismen auswirken.

Die Microarrays sollen in Zukunft ausgebaut werden zu noch komplexeren quantifizierenden Analyse-Szenarien, etwa einer seriellen Analyse der Genexpression (SAGE) des gesamten Genoms in Kombination mit bildgebenden Verfahren. Ziel soll es sein, die Divergenz der Expressionsmuster vor und nach dem phylotypischen Stadium genau bemessen zu können. Die Arbeitsgruppe von Pavel Tomancak erhofft sich, mit den weiteren Arbeiten die bisherigen Ergebnisse so zu verfeinern, dass sie das Sanduhrmodell als einen schlüssigen Erklärungsansatz breit untermauern können. Zudem wollen sie die Mechanismen der Evolution verstehen, die die Embryonalentwicklung steuern.

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