Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Die Schule von Salamanca und die Neue Welt

Autoren
Birr, Christiane
Abteilungen
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main
Zusammenfassung
Politik, Recht und Ethik in einer historischen Schwellensituation: Wie bewegt man sich in einer Welt, in der Verflechtungen unüberschaubar geworden sind, sich politisch gute Absichten in schwer zu rechtfertigende Taten umsetzen und bewährte Muster politischen und rechtlichen Handelns inadäquat erscheinen angesichts neuer, globaler Problemkonstellationen? Ein Projekt am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte untersucht die Schule von Salamanca und den spanischen Diskurs über das europäisch-westliche Verhältnis zur außereuropäischen Welt in einer frühen Phase der Globalisierung.

Moderne Vorstellungen von Recht und Politik, von Religion und Moral bildeten sich in einem komplexen und lange andauernden Prozess der Aneignung, Kritik und Weiterentwicklung antiker und mittelalterlicher Überlieferungen heraus. Im 16. und 17. Jahrhundert ist die Iberische Halbinsel ein zentraler Ort dieser Entwicklung. Die politischen und moralischen Herausforderungen der Zeit waren vielfältig: Spanien baute ein weltumspannendes Kolonialreich in Lateinamerika und Asien auf, die politische Landschaft Europas war von tiefen konfessionellen Gräben zerfurcht, in einer erstmals als global erfahrenen Welt entstanden neue Formen des Handels und des Wirtschaftens. An den Universitäten von Salamanca, Coimbra und Alcalá de Henares, an den Seminaren und Ordensschulen Spaniens, Portugals und in den Überseeterritorien nahmen Juristen, Theologen und Philosophen diese Herausforderungen auf. In Vorlesungen, Abhandlungen, Kommentaren und Briefwechseln bildete sich eine einflussreiche geistige Strömung heraus. Die weitreichenden Verbindungen der hieraus entstehenden Schulen sind bisher nur in Umrissen fassbar.

Im Zentrum dieses weltweiten akademischen Netzes stand die Universität von Salamanca. Juristen und Theologen, die in Salamanca studierten und/oder lehrten, setzten sich mit ihren geistesgeschichtlichen Traditionen vor dem Hintergrund der anbrechenden Moderne auseinander und betraten intellektuelles Neuland: Sie bahnten den Weg für die Herausbildung der als universal verstandenen Menschenrechte und des modernen Völkerrechts; sie trugen entscheidend zur Schärfung der juristischen Methode bei, zur Bestimmung der Bedeutung des Rechts und rechtlicher Verfahren für legitime politische Verhältnisse; sie unterzogen alle Gebiete des Rechts einer grundlegenden philosophisch-theologischen Revision (Abb. 1).

Die Neue Welt als rechtliches Neuland

Seit Beginn des 16. Jahrhunderts sahen sich die spanischen Juristen, Theologen und Politiker mit den grundlegenden Problemen der Kolonisierung der Neuen Welt konfrontiert. Kolumbus’ Bericht über die karibischen Inseln und ihre Bewohner hatte die Europäer in eine Welt katapultiert, die weit über den Horizont hinausreichte, den antike Geografen in ihren Schriften vermittelt hatten und der bis zum Ende des 15. Jahrhunderts den Erfahrungsraum bildete, in dem sich das politische Handeln Europas abspielte. Politiker, Juristen, Theologen und Philosophen Spaniens standen vor Fragen, auf die das traditionelle Wissen keine einfachen Antworten bereithielt: Fragen nach den politischen und rechtlichen, aber auch ethischen Grundlagen von Herrschaft, nach der Rechtsposition der indigenen Bevölkerung und der Herrschaftsgewalt indigener Fürsten, nach den Voraussetzungen für einen gerechten Krieg in einem kulturell gänzlich fremden Umfeld, nach der Verantwortung des Herrschers für das Handeln von Soldaten und Amtleuten in seinem Namen in einem Gebiet, das er angesichts der zu bewältigenden Distanzen selbst nicht mehr kontrollieren kann. Es stellten sich also Fragen nach den Rahmenbedingungen der Regierung eines transatlantischen Reiches und dem Aufbau neuer politischer Strukturen. Dazu kamen Fragen nach der Integration indigenen Adels und indigener Verwaltungsstrukturen, nach dem Verhältnis von Mission und ziviler Herrschaft, nach den Grundlagen der Mission und der Position des Individuums und schließlich nach dem, was den Menschen ausmacht, jenseits aller kulturellen Verschiedenheit. In einem Diskurs, der mehr als anderthalb Jahrhunderte überspannte, stellten sich die Juristen, Theologen und Philosophen an den Universitäten und Ordensseminaren der Iberischen Halbinsel diesen Fragen in einem beispiellosen Diskurs (Abb. 2).

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts versuchten Juristen wie Juan López de Palacios Rubios, Theologen wie die Dominikaner Matías de Paz und Pedro de Córdoba als Berater der kastilischen Krone, das tatsächliche Geschehen der Conquista normativen, ethisch fundierten Regeln zu unterwerfen. Sie formulierten ihre rechtlich-politischen wie missionstheologischen Modelle einer transatlantischen Herrschaft über eine spanisch-indigene Gesellschaft aufgrund der Erfahrungen in der Karibik, ohne von der Existenz der komplexen Hochkulturen Meso- und Südamerikas zu wissen. Die Kolonisierung der Tierra Firme, des amerikanischen Festlandes, sollte sich in einem Umfeld abspielen, dessen Andersartigkeit und Fremdheit den europäischen Erfahrungshorizont weit überstieg. Doch sind diese frühen Traktate der Ausgangspunkt für den andauernden Diskurs der Schule von Salamanca um den rechten Umgang mit der Neuen Welt.

Die folgende Generation von Theologen und Juristen, welche die berühmtesten Akteure hervorbrachte, verband die Modelle ihrer Vorgänger mit den Erfahrungen der politischen Realität: etwa die von normativen Vorgaben ungebremste Brutalität der Eroberer und Siedler, die Vielzahl und kulturelle Verschiedenheit der indigenen Völker und auch die tatsächlichen Schwierigkeiten der Mission. Das Verhältnis der späteren Theoriebildungen, wie in den Vorlesungen (relecciones) Francisco de Vitorias (Dominikaner und Professor für Theologie an der Universität Salamanca, 1483–1546), zu den frühen Traktaten war bislang unbekannt, auch weil diese oft ungedruckt blieben und bis heute nur als Manuskripte vorliegen. Erste Analysen der juristischen Stellungnahmen Juan de Palacios Rubios’ zeigen einen großen Einfluss auf de Vitorias Konzeption der Rechtstitel spanischer Herrschaft in Amerika.

Damit entstand das politische Denken der Neuzeit, das um die Fragen europäischer Herrschaft in einer globalisierten Welt kreiste, durch kreative Adaption traditioneller Autoritäten sowie durch transdisziplinäre Integration von Methoden, Denkfiguren und Wertungen. Die Protagonisten der Schule von Salamanca waren fächerübergreifend ausgebildet. Es ist sogar gerade diese geistige Integrationsleistung, die ihre Arbeit prägte: Juristische, theologische und philosophische Argumentationsstränge griffen ineinander, erst aus ihrem Zusammenspiel resultierte das spezifische Modernisierungspotenzial des Denkens der frühneuzeitlichen Scholastik. Neues kristallisierte sich in einem intensiv geführten, akademisch-politischen Diskurs heraus: ein Völkerrecht, das mit dem ius gentium („Völkerrecht“) des gemeinen Rechts nicht mehr als den Namen gemeinsam hatte, eine erste Idee von Rechten, die Völkern und Individuen aufgrund ihres Menschseins zustehen, unabhängig von Kultur oder Religion (Abb. 3).

Der Schreibtisch eines Spätscholastikers

Entgegen der traditionell negativen Konnotation der „Spätscholastik“ in der geistesgeschichtlichen Selbstvergewisserung des 19. und 20. Jahrhunderts ist inzwischen deutlich geworden, wie sehr die von ihrem historischen Bezugspunkt in der Schule von Salamanca her zu erfassenden intellektuellen Entwürfe und gelehrten Praktiken das politische und normative Denken des Westens bis in die Gegenwart geprägt haben. Die in den letzten Jahrzehnten geradezu explosionsartig angewachsene Literatur unterstreicht diesen Befund. Doch auch den vielen Studien gelingt es nur punktuell, die Komplexität der Debattenzusammenhänge zu erfassen. Ein entscheidender Grund liegt in der Schwierigkeit, auf die spezifischen, den historischen Autoren als Arbeitsmaterial zur Verfügung stehenden Quellen zuzugreifen. Viele Forscher verfügen über einige Werke, doch an keinem Ort ist ein Quellenkorpus zusammengeführt, das das intellektuelle Universum abbildet, in dem sich die Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts bewegten (Abb. 4).

Das Forschungsprojekt zur Schule von Salamanca erarbeitet nach analytischen Kriterien eine Auswahl der wichtigen Autoren und Druckausgaben. Es soll ein Werkkorpus an Bilddateien und Volltexten entstehen, das dann im Internet der weltweit betriebenen Forschung zur Schule von Salamanca zur Verfügung gestellt werden soll. Nur so wird es möglich, gleichsam die Schreibtische der Autoren der Schule von Salamanca mit ihren jeweils spezifischen Referenztexten in Gestalt der frühen Drucke nachzubilden. Damit wird das Frankfurter Institut zu einem Zentrum der weltweit betriebenen Forschung zur frühneuzeitlichen Geschichte Spaniens und Lateinamerikas.

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Katholisches Kirchenrecht und Moraltheologie im 16. Jahrhundert: Eine globale normative Ordnung im Schatten schwacher Staatlichkeit.
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Las doctrinas contractuales generales en el pensamiento normativo de la Escuela de Salamanca y el derecho canónico.
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¿Obliga en conciencia la ‘naturalis obligatio’? – Un comentario histórico-jurídico sobre la naturalis obligatio en Francisco Suárez.
In: Cruz Cruz, J. (ed.), Ley, guerra y paz en Francisco Suárez. Pamplona: EUNSA, 2009, 83–94.
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Kanonisches Recht und die Ausbildung allgemeiner Vertragslehren in der Spanischen Spätscholastik.
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La teoría de la restitución en Domingo de Soto: Su significación para la Historia del Derecho Privado Moderno.
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