Unscharfe Signale schärfen Nervenzellen den Blick

Max-Planck-Wissenschaftlern gelingt Nachweis, dass die Objektwahrnehmung bei Fliegen auf einem dendritischen Netzwerk beruht

17. September 2003

Wir erkennen Bilder, Formen oder bewegte Objekte vor einem sich bewegenden Hintergrund dank der fein abgestimmten Verrechnung von Impulsen in den Sehzentren des Gehirns. Wissenschaftlern der Abteilung Neuronale Informationsverarbeitung des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried ist es jetzt im Computermodell erstmals gelungen, Details jener Nervenkontakte aufzuklären, die zwischen drei verschiedenen Typen von Nervenzellen im Sehzentrum der Schmeißfliege bestehen. Die Neurobiologen konnten zeigen, dass Nervenzellen zum Erkennen von bewegten Objekten vor einem Hintergrund Methoden einsetzen, die man auch aus der digitalen Bildbearbeitung kennt. Die Ergebnisse werden in der aktuellen Ausgabe der Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht (PNAS 100 (19), September 16, 2003).

Die exakte Verarbeitung von Bildern bewegter Objekte ist für unsere Orientierung im Raum und die Reaktion auf Angriffe oder Gefahren lebensnotwendig. Autofahren wäre beispielsweise ohne diese Gehirnleistung nicht möglich, denn der Fahrer muss die vorbeiziehende Umwelt von plötzlich auftauchenden Verkehrsteilnehmern oder Hindernissen unterscheiden können. Wie diese unterschiedlichen Eindrücke in den Sehzentren des Gehirns verrechnet werden, erforschen Wissenschaftler der Abteilung Neuronale Informationsverarbeitung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. Sie untersuchen diese komplizierten Vorgänge an gewöhnlichen Fliegen, wahren Meistern des Bewegungssehens.

Zum Sehsystem im Gehirn der Schmeißfliege gehört als höher geordnetes Zentrum die Lobulaplatte. Dort befinden sich sechzig so genannte Tangentialzellen, die auf die Bewegungsreize aus verschiedenen Richtungen reagieren, indem sie die Signale von pixelartig angeordneten Bewegungsdetektorzellen aufsummieren. Hermann Cuntz beschäftigt sich im Rahmen seiner Doktorarbeit mit der Kommunikation zwischen zwei Nervenzelltypen, die auf horizontale Bewegungsreize reagieren, die HS- und die CH-Zellen (HS: engl. Horizontal System; CH: engl. Centrifugal Horizontal). Gemeinsam mit seinen Betreuern Jürgen Haag und Alexander Borst hat Cuntz die Nervenzellen im Computermodell nachgebaut (vgl. Abb.1), um die Reizleitung und -übertragung zu simulieren und mit Messungen an realen Nervenzellen vergleichen zu können.

Bei den Experimenten, deren Ergebnisse Haag und Borst bereits im vergangenen Jahr veröffentlicht hatten, wurden Farbstoffe eingesetzt, die - einmal in die Zelle injiziert - durch eine Helligkeitsänderung anzeigen, welche Teile der Nervenzelle aktiv sind. (s. Journal of Neuroscience , 2002, 22(8):3227-3233). Hierbei haben Haag und Borst gezeigt, dass HS- und CH-Zellen in ungewöhnlicher Weise über ihre feinen Verästelungen (Dendriten) elektrisch miteinander verbunden sind und zusammen ein dendritisches Netzwerk bilden. Diese Art der Verbindung legte die Vermutung nahe, dass die CH-Zellen ihre visuelle Information indirekt von der HS-Zelle über die Verästelung erhalten.

Diese Vermutung konnte Hermann Cuntz jetzt in der Computersimulation reproduzieren. Hierzu betrachtete er jede HS- und CH-Zelle im Computermodell und unterteilte die Zellen ihrer Verzweigungsstruktur folgend in zigtausend Mess-Abschnitte einzeln vergleichbar mit elektrischen Kabeln . Zusätzlich baute er an diesen simulierten Zellen Synapsen also Kontaktstellen zwischen den verschiedenen Nervenzellen ein, an denen die elektrischen Signale von Bewegungsdetektorzellen eintreffen. Dadurch war es möglich, an jedem Ästchen der Zellen die vorhandene Spannung zu "messen". Die simulierten Nervenzellen wurden über die Synapsen miteinander verbunden und das HS-Zellmodell elektrisch gereizt. In der Modell-Simulation zeigte sich, dass die Signalantwort in der CH-Zelle genau jenen Beobachtungen entsprach, die Haag und Borst zuvor im Experiment gemacht hatten. Die CH-Zelle musste also in direktem Kontakt mit der HS-Zelle stehen und nur von dieser eingehende Impulse empfangen.

Im zweiten Schritt simulierten die Wissenschaftler die lineare Weiterleitung des elektrischen Signals und stellten fest, dass die Signalantwort bei den CH-Zellen stets breiter und unschärfer war, als die gesendeten Signale. Simulierte man in den HS-Zellen einen lokalen Aktivitätspeak, war die dadurch induzierte Aktivitätsverteilung in dem Dendrit der CH-Zelle deutlich breiter: Die Weiterleitung führte also zu einem unschärferen Bild (vgl. Abb.2). Auch dies hatten Borst und Haag bereits in früheren Messungen an realen Zellen beobachtet. Dieses Unscharf-Machen nennt man in der modernen Bildbearbeitung "Blurr-Effekt" oder "Weichzeichnen". Dabei werden nebeneinander liegende Bildpunkte miteinander vermischt, so dass die Konturen verschwimmen. Auf ähnliche Weise verarbeiten offensichtlich die CH-Zellen jene Signale, die sie aus HS-Zellen über das Dendriten-Netzwerk empfangen. Damit haben die Martinsrieder Neurobiologen eine fundamentale Eigenschaft der dendritischen Verknüpfung entdeckt.

Im dritten Schritt untersuchten die Wissenschaftler, welche Funktion das Weichzeichnen des Signals durch die CH-Zelle haben könnte. Dazu betrachteten sie jene Nervenzellen, die von der CH-Zelle hemmende Signale empfangen. Diese so genannten FD-Zellen (engl. Figure Detection) sind am Erkennen bewegter Objekte vor einem bewegten Hintergrund beteiligt. Überträgt nun die CH-Zelle ein unscharfes und damit räumlich weiter verteiltes Spannungssignal auf die FD-Zelle, hat das Signal auch eine breitere hemmende Wirkung. Im Dendrit der FD-Zelle wird der hemmende Input mit dem positiven Input verrechnet, den die Zelle von den Signalen der Bewegungsdetektorzellen direkt erhält (s. Illustration in Abb. 3). Je breiter die Hemmung durch die CH-Zelle auf die FD-Zelle gestreut ist, um so schärfer wird das Bewegungs-Signal an die FD-Zelle aus den Bewegungsdetektorzellen herausgearbeitet, vergleichbar dem Schärfen von Konturen durch das "Maskieren von Unschärfe", eine Filtereigenschaft moderner Bildbearbeitungsprogramme, bei dem die Konturen von Bildern durch die Kontrasterhöhung einzelner Bildpunkte verstärkt werden. Cuntz, Haag und Borst vermuten deshalb den Sinn dieser Kontrasterhöhung darin, die Konturen einer Figur, die sich vor einem bewegten Hintergrund bewegt, zu schärfen.

Die Martinsrieder Neurobiologen haben mit dem dendritischen Netzwerk ganz neue Kommunikationswege zwischen Nervenzellen entdeckt. Die im Sehzentrum der Fliege räumlich geordnete Bildinformation wird durch das dendritische Netzwerk der drei verschiedenen Nervenzelltypen sehr einfach und effektiv verarbeitet. Der direkte Kontakt zwischen HS- und CH-Zellen über die elektrischen Synapsen ihrer Dendriten führt zu einem Weichzeichnungseffekt und dieser wiederum ist Voraussetzung für die Schärfung der Konturen bewegter Formen. Die Max-Planck-Wissenschaftler haben damit gezeigt, wie die Kommunikation von Nervenzellen dafür sorgen kann, dass eine Schmeißfliege im Flug zwischen der "Bewegung" der Umgebung, die im Flug an ihr vorbeizieht, und der Bewegung eines Objektes in dieser Umgebung unterscheiden kann. "Durch unsere Erkenntnis über die Funktion der CH-Zellen haben wir eine ganz neue Möglichkeiten entdeckt, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren können", fasst Alexander Borst zusammen.

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