Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

Wie Säuglinge lernen, das Verhalten Anderer zu verstehen

Autoren
Daum, Moritz
Abteilungen
Forschungsgruppe "Entwicklung von Kognition und Handlung"
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
Zusammenfassung
Der Mensch agiert und interagiert in einer sozialen Umwelt. Die entwicklungspsychologische Forschung beschäftigt sich mit den kognitiven Mechanismen, die dem Handlungsverständnis zugrunde liegen. Aktuelle Befunde zeigen, dass Handlungen wie Greifen und Zeigen bereits früh im Leben auf verhaltens- und auf neurophysiologischer Ebene ähnlich verarbeitet werden wie bei Erwachsenen. Forschungsansätze, die sowohl auf Säuglinge als auch auf Erwachsene angewendet werden können, ermöglichen es, die sozial-kognitive Entwicklung über eine breite Altersspanne zu erforschen.

Wie der Mensch lernt, seine Umwelt zu verstehen

Eine zentrale Frage der entwicklungspsychologischen Forschung ist, wie der Mensch lernt, seine soziale Umwelt zu verstehen und mit ihr zu interagieren. Dazu gehört, das zielgerichtete Handeln anderer Personen zu verstehen und die Ausführung der eigenen Handlungen zu kontrollieren. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten ermöglicht es dem Kind, immer besser mit seiner sozialen Umwelt zu interagieren.

Bei der Verarbeitung von beobachtetem Handlungsgeschehen sind verschiedene Mechanismen zu unterschiedlichen Zeitpunkten beteiligt. Wenn zum Beispiel eine Person beobachtet wird, die nach einem Glas greift, kann das Ziel der Handlung antizipiert werden und – noch während die Handlung im Gange ist – prospektiv, also im Sinne einer Zukunftserwartung, verarbeitet werden. Nachdem die Handlung beendet ist, kann der tatsächliche mit dem erwarteten Handlungsausgang abgeglichen werden und die Handlung rückblickend, also retrospektiv, interpretiert werden.

Die bisherige Forschung zum frühkindlichen Handlungsverständnis hat sich vorwiegend mit der retrospektiven Verarbeitung beschäftigt. Bei einer Verletzung der Erwartung, wenn zum Beispiel am Ziel vorbeigegriffen wird, reagieren Säuglinge mit einer erhöhten Aufmerksamkeit, die sich zum Beispiel an verlängerten Blickzeiten ablesen lässt.

Antizipation von Handlungszielen

Die Forschungsgruppe „Entwicklung von Kognition und Handlung“ am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften geht in verschiedenen Studien der Frage nach, wie Kinder im ersten Lebensjahr Handlungen prospektiv verarbeiten, das Handlungsziel also antizipieren, bevor die Handlung beendet ist. Insbesondere interessiert die Forscher dabei die „verdeckte Aufmerksamkeit“.

Verdeckte Aufmerksamkeit bezeichnet die Verschiebung der Aufmerksamkeit eines Beobachters in Richtung einer Position im Raum, ohne dass diese Position explizit betrachtet wird. Eine Verlagerung der verdeckten Aufmerksamkeit geschieht zum Beispiel, wenn man einen Pfeil betrachtet. Obwohl man mit den Augen den Pfeil selbst fixiert (das nennt man die „offene Aufmerksamkeit“), wandert die verdeckte Aufmerksamkeit in die Richtung, in die er zeigt. Die Verlagerung der verdeckten Aufmerksamkeit wurde umfassend vom amerikanischen Psychologen Michael Posner [1] untersucht. Er zeigte bei erwachsenen Testpersonen, dass die Reaktion auf ein erscheinendes Objekt schneller erfolgt, wenn dieses in Pfeilrichtung (an kongruenter Position) statt gegen die Pfeilrichtung auftaucht (an inkongruenter Position). Diesen Unterschied in den Reaktionszeiten nennt man den Kongruenzeffekt.

Die Forschungsgruppe hat sich diesen Effekt zunutze gemacht und untersuchte, inwiefern die verdeckte Aufmerksamkeit auch durch zielgerichtete Handlungen moduliert wird. Außerdem wurde erforscht, ab welchem Alter Säuglinge ihre verdeckte Aufmerksamkeit beim Betrachten einer Greifbewegung in Greifrichtung lenken, also Greifen als zielgerichtete Handlung verstehen. Der verwendete Hinweisreiz war dabei entweder menschlicher Natur (eine greifende Hand) oder nichtmenschlicher Natur (eine greifende mechanische Klaue). Zunächst wurden Erwachsene geprüft [2]. Ihre per Tastendruck gemessenen Reaktionszeiten waren bei kongruenten Zielreizen kürzer als bei inkongruenten. Verdeckte Aufmerksamkeit lässt sich also auch durch zielgerichtete Handlungen flexibel modulieren. Zusätzlich führten die menschlichen Gesten zu einem früheren und stärker ausgeprägten Kongruenzeffekt als die mechanische Klaue.

Das beschriebene Muster wurde in einem nächsten Schritt für die Untersuchung mit Säuglingen angepasst [3]. Bei Säuglingen können Reaktionszeiten noch nicht mittels Drücken einer Taste ermittelt werden. Stattdessen wurde die Blickbewegung von dem zentralen Hinweisreiz (einer greifenden Hand) zu einem danach erscheinenden Zielreiz gemessen, der entweder an kongruenter Position, also in Greifrichtung vor der Hand, oder an inkongruenter Position, entgegen der Greifrichtung hinter der Hand, erschien. Untersucht wurden Kinder im Alter von 3, 5 und 7 Monaten. Ab dem Alter von 5 Monaten trat der Kongruenzeffekt auf, die Reaktion der Blickbewegungen bei kongruenten Zielreizen war schneller als bei inkongruenten. Aufmerksamkeits­prozesse lassen sich also durch zielgerichtete menschliche Handlungen bereits ab einem Alter von 5 Monaten – im selben Alter, in dem die Kinder selbst anfangen, zielgerichtet zu greifen – ähnlich modulieren wie bei Erwachsenen. Schon sehr junge Säuglinge verstehen also die Zielgerichtetheit einer Greifbewegung und verschieben entsprechend ihre Aufmerksamkeit in Greifrichtung. Anders als bei den Erwachsenen trat in keiner der drei Altersgruppen ein Kongruenzeffekt auf, wenn statt einer Hand eine mechanische Klaue zu sehen war. Die Aufmerksamkeitsmodulation ist in diesem Alter offenbar spezifisch auf menschliche Greifhandlungen beschränkt und lässt sich noch nicht auf nichtmenschliche Greifhandlungen generalisieren (Abb. 1).

Das Zeigen in der zwischenmenschlichen Interaktion

Eine weitere zielgerichtete Handlung, die in der zwischenmenschlichen Interaktion und Kommunikation von Bedeutung ist, und die sich im ersten Lebensjahr entwickelt, ist das Zeigen auf Objekte. In einer Studie zum Verständnis von Zeigebewegungen wurden Kindern im Alter von 8 Monaten sowie Erwachsenen Objekte gezeigt und kurz darauf eine Hand, die entweder auf das Objekt oder in die entgegengesetzte Richtung zeigte [4]. Im Gegensatz zu den vorherigen Studien wurden hier nicht Reaktionszeiten gemessen, sondern mittels Elektroenzephalographie (EEG) die Aktivität der sich unter den Elektroden befindenden Neuronen. Beim Beobachten von inkongruentem Zeigen reagierten die gleichen posterior-temporalen Gehirnareale, die zuvor auch in anderen Experimenten bei inkongruenter Blickrichtung besonders aktiv gewesen waren, stärker als bei kongruentem Zeigen. Aufgrund dieser Ähnlichkeit lässt sich schließen, dass sowohl Blicke als auch Gesten auf einer ähnlichen neuronalen Grundlage verarbeitet werden und es demzufolge ein einheitliches System für die Verarbeitung von sozial wichtigen Referenzen gibt.

Dies war sowohl bei den erwachsenen Versuchspersonen der Fall als auch bei 8 Monate alten Säuglingen. Obwohl sie selbst in diesem Alter noch nicht aktiv zeigen können und noch kein explizites Verständnis für Zeigegesten haben, reagierte ihr Gehirn auf kongruentes Zeigen bereits anders als auf inkongruentes (Abb. 2). Die Elektroden, bei denen besonders starke Aktionspotenziale gemessen worden waren, befanden sich bei Kleinkindern wie auch Erwachsenen über dem hinteren Temporallappen. Vermutlich ist bei beiden die obere Schläfenfurche (der Superior-temporale Sulcus, STS) für die Signalverarbeitung verantwortlich. Säuglinge im Alter von 8 Monaten verarbeiten Zeigegesten also schon ähnlich wie Erwachsene, lange bevor sie selbst auf Gegenstände oder Personen zeigen können und Zeigegesten von anderen explizit verstehen.

Integration der Ergebnisse

Kombiniert man die Ergebnisse der beschriebenen Experimente, lässt sich sagen, dass Säuglinge zielgerichtete Handlungen bereits ähnlich verarbeiten und verstehen wie Erwachsene. Das Handlungsverständnis baut dabei auf verschiedenen Verarbeitungsmechanismen auf, die sowohl prospektiver als auch retrospektiver Natur sind. Bei einfachen Greifhandlungen sind Wahrnehmung und Produktion der Handlung stark miteinander korreliert. Die neuronalen Grundlagen der Handlungswahrnehmung können dabei der Handlungsproduktion aber durchaus vorausgehen.

Posner, M. I.
Orienting of attention.
The Quarterly Journal of Experimental Psychology 32, 3–25 (1980)
Daum, M. M.; Gredebäck, G.
Spatial cueing by referential human gestures, arrows and mechanical devices.
International Journal of Mind, Brain and Cognition 2(1–2), 113–126 (2011)
Daum, M. M.; Gredebäck, G.
The development of grasping comprehension in infancy: Covert shifts of attention caused by referential actions.
Experimental Brain Research 208, 297–307 (2011)
Gredebäck, G.; Melinder, A.; Daum, M. M.
The neural basis and development of pointing comprehension.
Social Neuroscience 5, 441–450 (2010)
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