Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Faktenwissen – nicht perzeptuelles Wissen – beeinflusst unsere Interpretation der Welt

Semantic but not perceptual memory determines how we interpret the world

Autoren
Mitterer, Holger
Abteilungen
Abteilung Sprachverstehen (Anne Cutler)

Zusammenfassung
Es ist bekannt, dass Faktenwissen beeinflusst, wie wir die Welt sehen. Es war aber bisher unklar, ob dieser Einfluss vom exakten perzeptuellen Wissen oder vom abstrahierten semantischen Wissen ausgeht. Beide Erklärungen sind schwierig zu unterscheiden, da das semantische Wissen natürlich in hohem Maße von den perzeptuellen Eindrücken bestimmt wird. Eine Ausnahme bilden Ampeln: Sie sind in allen europäischen Ländern sehr ähnlich, werden jedoch mit unterschiedlichen Farben assoziiert. Auf dieser Grundlage konnte gezeigt werden, dass sprachspezifische Labels beeinflussen, wie wir die Welt sehen.
Summary
It has long been recognized that world knowledge influences how we view the world around us. It was not clear, however, whether this influence was exerted by the exact perceptual memory of how things looked or rather by abstract, factual knowledge about objects in the world. While these two sources of knowledge are usually highly correlated, traffic lights constitute an exception by being physically similar in European countries but named differently. Using this test bed, it was possible to show that language-specific labels guide how we see the things around us.

Die Welt um uns herum zu verstehen, ist schwieriger als es scheint. Das von einem Objekt reflektierte Licht, das unsere Augen erreicht, ist mehrdeutig. Man stelle sich eine Banane vor. Die Form einer Banane hängt dramatisch davon ab, von welcher Seite wir sie sehen. Auch die Farbe des Lichtes, das unsere Augen erreicht, ist nicht eindeutig. Ist die Banane wirklich gelb oder ist es einfach das Umgebungslicht, das viele Gelbtöne enthält? Unsere Wahrnehmung hat mehrere „Tricks“ auf Lager, die diese Mehrdeutigkeit vermindern. So wird eine Banane als weniger gelb wahrgenommen, wenn alle Objekte im Sichtfeld leicht gelb erscheinen. Das weist nämlich auf eine Lichtquelle mit vielen Gelbanteilen hin. Auch unser Welt- oder Faktenwissen, „Bananen sind gelb“, hilft uns. Daher wissen wir, dass die gebogenen gelben Formen im Supermarkt zwischen den Äpfeln und den Orangen wahrscheinlich keine Plastikbumerangs, sondern Bananen sind. Solche Einflüsse von unserem Wissen auf die Interpretation unserer Sinnesdaten sind in vielen Bereichen nachgewiesen. So erscheint ein gelb-oranger Farbton auf einer Banane gelber als auf einer Karotte, weil wir erfahrungsgemäβ wissen, dass eine Banane gelb, eine Karotte aber orange ist. Auf ähnliche Weise wird ein Sprachlaut zwischen /i/ und /ü/ am Ende des Fragments „Gen...“ als /i/ erkannt, am Ende von „Men...“ aber als /ü/. Hierbei machen wir Gebrauch von unserem linguistischen Wissen. Als deutsche Muttersprachler wissen wir, dass „Genie“, aber nicht „Genü“, ein Wort ist. Deswegen ist der undeutliche Laut zwischen /i/ und /ü/ nach „Gen...“ wahrscheinlich ein /i/. Andersrum wissen wir vom Fragment „Men...“, dass es nur mit einem /ü/ am Ende ein Wort ist.

Einfluss auf Sinneseindrücke oder Interpretation?

Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze für diese Effekte. Ein Typ von Modellen geht davon aus, dass unser Faktenwissen die frühe Wahrnehmung (top-down) beeinflusst. Ein anderer Typ von Modellen geht davon aus, dass Wahrnehmung und Weltwissen in der Interpretation fusioniert (Engl., „merged“) werden. Eine weitere Frage ist, in welcher Form unser Wissen unsere Interpretation der Welt beeinflusst. Ist es das perzeptuelle Wissen über den durchschnittlichen Farbton, den wir im Supermarkt auf Bananen sehen oder unser Faktenwissen, dass Bananen nun einmal gelb sind (zumindest im Supermarkt)? Der Unterschied zwischen Faktenwissen und perzeptuellem Wissen lässt sich hier so verstehen. Man kann wissen, dass Bananen gelb sind, ohne jemals eine Banane gesehen zu haben. Perzeptuelles Wissen jedoch bezieht sich auf die konkrete Erinnerung an die Farbtöne, die man auf Bananen gesehen hat. Abbildung 1 zeigt alle vier Möglichkeiten auf, wie unser Weltwissen die Interpretation der Welt um uns herum beeinflussen kann.

Das Problem der Konfundierung

Es gab kaum Forschung dazu, in welcher Form unser Weltwissen die Interpretation unserer Sinneseindrücke beeinflusst. Das liegt vor allem an dem Problem der Konfundierung, d.h. dass zwei Faktoren zusammen variieren. Dadurch ist es schwierig, festzustellen, welcher Faktor wirklich ursächlich ist. Nehmen wir wieder das Beispiel der Bananen: Bananen nennen wir nun einmal (faktisch) deswegen gelb, weil sie im Mittel einen bestimmten perzeptuellen Farbton haben. Bananen haben weniger Rotanteile als die durchschnittliche Karotte, deren orange aus einer Mischung von gelben und roten Farbtönen entsteht. Und so gilt das eigentlich für alle Objekte. Unser Faktenwissen ist zwar eine Abstraktion, die aber immer in der Realität verwurzelt ist. Alle Objekte, die wir blau nennen, haben einen ähnlichen durchschnittlichen Farbton. Am MPI für Psycholinguistik haben die Wissenschaftler jedoch eine Ausnahme gefunden: Ampeln. In verschiedenen europäischen Sprachen ist man sich zwar meist einig, dass die obere und untere Farbe jeweils „rot“ und „grün“ genannt werden sollten. Über das mittlere Licht herrscht jedoch große Uneinigkeit (Abb. 2). In Deutschland fährt man noch gerade bei „gelb“ über die Ampel, in den Niederlanden allerdings bei„oranje“ (orange) und in England sogar bei „amber“ (bernsteinfarben). Der Farbton von Ampeln ist jedoch in allen Ländern derselben europäischen Richtlinie unterworfen. Hier haben wir also einen Fall, in dem das perzeptuelle Wissen gleich ist, während das deklarative Wissen sich zwischen den Sprechern dieser Sprachen unterscheidet.

Ein Experiment ist geboren

Hiermit können die Wissenschaftler testen, ob das deklarative Wissen einen Einfluss auf die Farbwahrnehmung hat, indem sie niederländische und deutsche Versuchsteilnehmer fragen, wie sie Farben auf dem mittleren Licht einer Ampel wahrnehmen. Niederländer sollten dann Farben eher als orange wahrnehmen als Deutsche. Das deklarative Wissen ist für diese beiden Gruppen ja unterschiedlich, obwohl das perzeptuelle Wissen vergleichbar ist. Um das zu testen, hat Holger Mitterer und sein Team ein Kontinuum von Farbtönen von Gelb nach Orange hergestellt und auf vier verschiedene Objekte projiziert: eine Socke, eine Karotte, eine Banane und das mittlere Licht einer Ampel. Warum diese vier Objekte? Am Max-Planck-Institut hat ein groβes sprachvergleichendes Projekt gezeigt, dass verschiedene Sprachen den Farbraum sehr unterschiedlich einteilen können [1]. Auch wenn Deutsch und Niederländisch sehr ähnliche Farbwörter haben (rood = rot, oranje = orange, geel  = gelb, groen = grün, blauw = blau), ist es möglich, dass die Grenzen zwischen diesen Kategorien leicht unterschiedlich sind. Deswegen die Socke. Socken können gelb oder orange sein (auch wenn sie aus ästhetischen Gründen weder das eine noch das andere sein sollten). Wenn das deutsche „gelb“ etwas anders ist als das niederländische „geel“, dann sollten  niederländische und deutsche Versuchsteilnehmer unser Farbkontinuum auf einem Socken unterschiedlich wahrnehmen. Dem war aber nicht s –, die Kategorien gelb = geel und orange = oranje scheinen also in beiden Sprachen sehr ähnlich zu sein. Warum zusätzlich auch noch die Banane und die Karotte? Hiermit können wir sehen, inwieweit (geteiltes) Weltwissen die Farbwahrnehmung beeinflusst. Tatsächlich sahen sowohl deutsche als auch niederländische Versuchsteilnehmer häufiger Gelb auf der Banane als auf der Karotte, was einen der früheren Befunde bestätigt [2]. Auf diesem Hintergrund ist es nun interessant, wie Niederländer und Deutsche dieselben Farben auf einer Ampel wahrnehmen: Tatsächlich geben deutsche Versuchsteilnehmer hier  mehr „gelb“-Antworten als niederländische Versuchsteilnehmer. Aufgrund der Kontrolle mit der Socke können die Wissenschaftler ausschlieβen, dass das an unterschiedlichen Auffassungen liegt, was „gelb”/„geel” eigentlich ist. Die Resultate zeigen also, dass das deklarative Wissen „Ampel=gelb” entscheidend dazu beiträgt, wie wir die Welt interpretieren.

Ist deklaratives Wissen ausreichend?

Es stellt sich jetzt natürlich auch die Frage, ob nur das deklarative Wissen einen Einfluss auf die Interpretation von Sinneseindrücken hat oder ob auch das perzeptuelle Wissen einen zusätzlichen Beitrag liefert. Aufgrund des experimentellen Designs können die Forscher in Nijmegen das eher verneinen. Die Unterschiede zwischen Deutschen und Niederländern bei der Farbwahrnehmung auf der Ampel waren genauso groβ wie die Unterschiede zwischen den Bananen und Karotten. Hier kommen für beide Gruppen perzeptuelles Wissen und deklaratives Wissen zusammen, trotzdem ist der Unterschied nicht gröβer als der Unterschied für die Ampel, bei der es nur einen Unterschied im deklarativen Wissen gibt. Anders ausgedrückt: Da der Unterschied zwischen Bananen und Karotten (=deklaratives und perzeptuelles Wissen) nicht größer ist als der Unterschied zwischen niederländischen und deutschen Versuchsteilnehmern bei der Ampel (=deklaratives Wissen), scheint perzeptuelles Wissen allein keinen Effekt zu haben.

Linguistische Relativität

Die Befunde sind auch von Bedeutung für die Frage, inwieweit unsere Sprache unser Denken bedingt, eine Frage, die in den Kognitionswissenschaften in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt. Die Daten zeigen klar, dass ein solcher Einfluss möglich ist, allerdings nicht so stark wie häufig diskutiert. Unsere Sprache hindert uns nicht daran, trotz unterschiedlicher Labels, ähnliche Farbtöne als ähnlich wahrzunehmen. Allerdings kann unsere Sprache beeinflussen, zu welcher Interpretation wir kommen. Mit diesem Ansatz können viele der zum Teil widersprüchlichen Daten zu dieser Frage erklärt werden, in denen ein Einfluss der Sprache auf Wahrnehmung und Denken nicht konsistent zu finden ist, aber durchaus häufig beobachtet werden kann. Wenn die Sprache nur unsere Interpretation, aber nicht die Wahrnehmung beeinflusst, findet man einen Einfluss der Sprache, wenn man sich auf die Interpretation konzentriert, nicht aber, wenn man sich auf die Wahrnehmung konzentriert.

Majid, A.; Levinson, S. C.
The senses in language and culture
The Senses & Society 6 (1), 5-18 (2011)
Mitterer, H.; de Ruiter, J. P.
Recalibrating color categories using world knowledge
Psychological Science 19, 629-634 (2008)
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