Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

Rechtspluralismus als Kulturkampf

Legal Pluralism as Fight for Culture

Autoren
Benda-Beckmann, Franz von; Benda-Beckmann, Keebet von
Abteilungen
Projektgruppe Rechtspluralismus
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle (Saale)
Zusammenfassung
In West-Sumatra hat die politische Freiheit nach dem Fall des Suharto-Regimes 1998 zu drei widersprüchlichen Revitalisierungen der politischen, ideologischen und rechtlichen Ordnungsprinzipien geführt. Debattiert wird die Rückgewinnung von demokratischen Verfassungsprinzipien, die Intensivierung des Islam sowie des auf Tradition (Adat) beruhenden ethnischen Rechts. Dies führt zu Diskussionen über die „wahre“ Kultur und ethnische Identität der Minangkabau, in deren Zentrum die Frage nach der Balance zwischen den gleichzeitig um ihre Anerkennung ringenden rechtlichen Ordnungssystemen steht.
Summary
After the fall of the Suharto regime in 1998 in West Sumatra the political freedom led to a threefold and contradictory revitalisation process of legal, political and ideological principles of social order: democratic principles, the role of Islam in public space, and a wider recognition of tradition (adat) based rights in the local government and natural resource management. This has led to discussions over the „true“ Minangkabau ethnic identity and culture that is a struggle over the new balance between the co-existing legal orders of state law, Islamic law and adat law.

Ein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung befasst sich mit den Folgen der Dezentralisierungspolitik für das Recht in West-Sumatra (Indonesien) nach dem Fall des autoritären Suharto-Regimes im Jahr 1998 [1]. West-Sumatra ist die Heimat der Minangkabau, einer ethnischen Bevölkerungsgruppe von ungefähr sechs Millionen Menschen. Drei Viertel dieser Bevölkerungsgruppe lebt in West-Sumatra, der Rest vor allem in Jakarta, der Hauptstadt, und weiteren Großstädten auf Java. Wie in anderen Regionen Indonesiens löste die neue politische Freiheit auch in West-Sumatra eine Neubesinnung auf die sehr unterschiedlichen ideologischen, rechtlichen und politischen Organisationsformen aus, die seit langer Zeit und in wechselnder Gewichtung das soziale und politische Leben in Indonesien bestimmen.

Rechtspluralismus zwischen Tradition, Religion und Staat

Das älteste dieser Ordnungsmuster ist das Adat der Minangkabau. Adat bezeichnet umfassend die Bereiche, die wir in westlicher Tradition als Ideologie, Recht, Politik, Moral und Gewohnheit unterscheiden. Das zentrale Prinzip des Adat der Minangkabau ist die matrilineare Abstammung, oft auch „Mutterrecht“ genannt. Demnach wird man über die Abstammung in der mütterlichen Linie Mitglied der wichtigen sozialen Gruppen und erhält hierüber Zugang zum Vermögen (etwa zum Reisland oder zum Familienschmuck) der Abstammungsgruppen. Auch die Vererbung von Vermögen und die Nachfolge in politische Ämter richten sich nach der mütterlichen Abstammung. Das heißt vor allem, dass Kinder nicht von ihrem Vater erben, da er zu einer anderen Abstammungsgruppe gehört.

Seit dem 16. Jahrhundert schlossen sich die Minangkabau dem Islam an. Der Gegensatz zwischen Adat und den Ordnungsvorstellungen des Islam mit seinen patrilinearen und individualistisch gefärbten rechtlichen Modellen der Sozialorganisation, der Geschlechterverhältnisse und der Vererbungsmuster hätte größer nicht sein können. Als sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach einem blutigen Krieg die Niederländer das Gebiet als ihre Kolonie Niederländisch Ostindien einverleibten, kam mit dem staatlichen Recht eine neue Rechtsform hinzu. Damit bekam der Rechtspluralismus – die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Rechtsordnungen im selben sozialen und politischen Raum – seine für Indonesien charakteristische Dreieckskonstellation.

Seitdem haben die Minangkabau das beständige Problem, einen Modus Vivendi zu finden, um sich mit der gleichzeitigen Existenz dieser widersprüchlichen rechtlichen Ordnungen zu arrangieren. Das führte zu einer bis heute wechselvollen, teils friedlichen, teils konfliktreichen Geschichte, in der Adat-Älteste, religiöse Führer und staatliche Instanzen versuchen, aus ihrer jeweiligen Perspektive die Geltungssphären der drei Rechtsordnungen abzustecken und eine Hierarchie zwischen deren politischen und rechtlichen Autoritäten festzulegen und durchzusetzen. Dies ist von besonderer Bedeutung bei der Gestaltung der Rolle des Adat und der Adat-Ältesten in der Dorfverwaltung. Am umstrittensten blieb der Bereich von Eigentum und Vererbung, wo der Widerspruch zwischen dem matrilinearen Adat und dem eher patrilinear gefärbten islamischen Recht am deutlichsten und für die Sozialorganisation am wichtigsten war.

Ausgangspunkt für all diese Verhandlungen und Streitigkeiten war, dass Islam und Adat zwar unterschiedliche, jedoch gleichermaßen unabdingbare Bestandteile der Kultur und Identität der Minangkabau seien. Dies wurde in dem legendären „Vertrag von Marapalam“ von 1837 bekräftigt, benannt nach dem Berg, auf dem der Erzählung nach die Adat-Gesinnten und islamische Reformer ihren Frieden schlossen und in dem ideologischen Mantra bekräftigten: „Adat beruht auf der Sharia, die Sharia beruht auf Adat.“ In den 1970er-Jahren wurde diese Formel mit deutlicherer Betonung der Religion zu: „Adat beruht auf der Sharia, die Sharia auf dem Koran.“ Kern dieser Einigkeit war der „Erbrechtskonsens“, auf dessen Grundlage durch eigene Arbeit erworbenes Vermögen innerhalb der Kernfamilie – also auch vom Vater an die Kinder –, die Güter der matrilinearen Abstammungsgruppen, vor allem Reisfelder und Baumplantagen, jedoch weiterhin nach den matrilinearen Regeln des Adat vererbt werden sollten.

Neue politische Freiheit, neue politische Dynamik

Der Prozess der Dezentralisierung nach dem Fall des Suharto-Regimes führte zu einer spannungsreichen politischen und rechtlichen Dynamik. In West-Sumatra wurden nicht nur die Einführung demokratischer Strukturen und eine gerechtere wirtschaftliche Beziehung zwischen Zentralregierung, Provinz und Distrikten angestrebt. Die neue Freiheit wurde auch genutzt, um die 1983 in ganz Indonesien eingeführte Desa-Dorfstruktur abzuschaffen und zu der traditionellen Nagari-Dorfstruktur zurückzukehren. Die vorkolonialen Nagari-Dörfer waren eine weitgehend autonome politische Organisationsform, die seit der Kolonialisierung die unterste staatliche Verwaltungsebene bildete. Dieses „Zurück zum Nagari“ und den zugrunde liegenden Adat-Werten (das in ganz Indonesien mit Interesse aufgenommen wurde und Nachahmer fand) bedeutete eine Stärkung von Adat in der Dorfverwaltung und -rechtsprechung und führte dazu, dass lang unterdrückte Forderungen, dem Staat Adat-Dorfland abzuringen und unter Adat-Kontrolle zu stellen, wieder erhoben wurden. Gleichzeitig kam es zu einer dynamischen Intensivierung des Islam in der Öffentlichkeit, die sich hauptsächlich in der an islamischem Recht orientierten Moralgesetzgebung des Provinzparlaments und der Distriktsparlamente zeigte.

Die Revitalisierung von Adat und Islam führten in West-Sumatra zu einer verstärkten Besinnung auf die ethnische Identität und „Kultur“ der Minangkabau. Diese war weniger auf eine Abgrenzung von anderen ethnischen oder religiösen Gruppen ausgerichtet als auf eine stärker nach innen gerichtete Diskussion um das „wahre“ Wesen der Minangkabau. Bei dieser Suche nach Identität und Kultur ging es primär um eine neue Balance in der Geltung von islamischem und staatlichem Recht sowie Adat-Recht, und seit Neuestem auch der Menschenrechte. Wer die Deutungshoheit über die richtige Interpretation von Kultur und der Formel „Adat beruht auf der Sharia“ hat, legt hiermit zugleich die weitere weltanschauliche und rechtliche Entwicklung fest.

Der Besitz der Deutungshoheit über die Kultur verspricht zudem auch intellektuelles Kapital, das in wirtschaftliches Kapital umgewandelt werden kann. Die Anerkennung der eigenen kulturellen Expertise verspricht nicht nur eine hohe Reputation als Experte, sondern bedeutet auch, dass man mit großer Wahrscheinlichkeit als Berater in die zahlreichen Prozesse der Dezentralisierung und Reorganisation der Dorfverwaltung sowie in Forschungsvorhaben eingebunden beziehungsweise als Organisation durch die Provinzregierung subventioniert wird. Diese Auseinandersetzungen werden überwiegend innerhalb der minangkabauschen Elite ausgetragen. Dabei kommt es, wie schon in der Vergangenheit, zu Spannungen zwischen der stärker ethnisch und regional orientierten Elite von Provinzpolitikern und Bürokraten, religiösen Führern und Adat-Experten einerseits und andererseits den eher national orientierten, in der Großstadt lebenden Minangkabau auf Java – meist aktive oder pensionierte Beamte und Militärs. In beiden Gruppierungen gibt es sowohl Personen, die am hergebrachten Adat festhalten wollen, als auch andere, die eine wichtigere Rolle für den Islam verlangen.

Seit dem Jahr 2000 jagen einander Konferenzen und daraus resultierende Publikationen, die sich mit der besten Sinngebung des Verhältnisses zwischen Adat, Islam und Staat befassen. Auf Tagungen und in Veröffentlichungen in Zeitungen, Büchern und Fernsehinterviews wie auch zunehmend im Internet werden diese Diskussionen ausgetragen. Auch viele im Ausland lebende Minangkabau beteiligen sich daran. Großes Aufsehen erregte 2004 die Veröffentlichung eines Buchs der Sozialwissenschaftler Bahar und Tadjoeddin mit dem Titel Es gibt noch Hoffnung: Die Position als ethnische Minderheit im Zusammenleben mit Volk und Staat (Übersetzung des Autors), in dem sie die Vereinbarkeit des matrilinearen Systems mit den Menschenrechten und mit den Prinzipien des islamischen Rechts hinterfragen [2]. Vor allem Bahars provozierende Auffassungen führten zu einem intensiven Gedankenaustausch und lebhaften Diskussionen auf mehreren Internetseiten. Die wichtigsten Reaktionen wurden 2008 als Buch veröffentlicht [3].

Der Streit um den Kulturkongress der Minangkabau

Den vorläufigen Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen im Streit um den Kulturkongress der Minangkabau, der im Oktober 2010 in West-Sumatra hätte stattfinden sollen. Die Emigrantenorganisation der Minangkabau auf Java hatte für den Kongress eine siebzig Seiten umfassende Resolution entworfen. Mit der Annahme dieser – ihrer Struktur und Wortwahl nach Gesetzestexten sehr ähnlichen – Resolution wäre die „richtige“ Interpretation des Verhältnisses von Adat, Islam und Staat mehr oder weniger juridifiziert worden. Die „Kultur“ der Minangkabau und ihre wichtigsten Prinzipien und Institutionen, wie die Religionszugehörigkeit, die Abstammung mütter- aber auch väterlicherseits, die Namensgebung, die Rolle der Eltern und des Mutterbruders und des Familienoberhaupts sowie der religiösen Führer, wurden normativ beschrieben. All diese Aspekte wurden in den weiteren Rahmen von Philosophie, Ideologie und staatlichem Recht sowie der Menschenrechte gestellt. Im Vergleich zu den früheren Interpretationen des Verhältnisses zwischen Adat und Islam beinhaltete die Resolution eine deutliche Verschiebung zugunsten des Islam im Hinblick auf Abstammung und Vererbung.

Dieser Plan führte zu großen Spannungen innerhalb der Emigrantengemeinschaft und zwischen Intellektuellen in West-Sumatra und Jakarta. Es gab heftige Proteste und öffentliche Auseinandersetzungen, die vor allem im Internet ausgetragen wurden. Viele minangkabausche Intellektuelle in West-Sumatra ärgerten sich über die Bevormundung durch die Großstadt-Minangkabau und die Unterminierung des Adat-Islam-Konsenses durch eine zu große Gewichtung des Islam. Unter dem Slogan „Zehn Millionen Minangkabau weisen den Kongress zurück“ wurde eine Facebook-Seite eingerichtet. Der Widerstand wurde so heftig, dass der Gouverneur den politisch nicht mehr tragbaren Kongress absagte. Die Emigranten setzten sich jedoch durch und veranstalteten im Dezember 2011 ein minangkabausches Kulturseminar in der Hauptstadt West-Sumatras, allerdings ohne Mitwirkung der west-sumatranischen Elite. Die Schlussresolution des Kulturseminars war mehr oder weniger mit der für den „Kongress“ entworfenen identisch.

Aber auch diese Streitigkeiten wurden unter der ideologisch geprägten Voraussetzung ausgetragen, dass Adat und Islam unverbrüchlich miteinander verbunden seien. Bisher haben diese politischen und ideologischen Streitigkeiten nur wenig Einfluss auf die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Adat, Islam und Staat in anderen Arenen wie etwa der Rechtsprechung durch Dorfinstanzen und staatliche Gerichte und im alltäglichen Umgang mit Eigentum und Vererbung. Dennoch sollte man die soziale Bedeutung dieser ideologischen Auseinandersetzungen und Beschwörungsformeln nicht unterschätzen. Obgleich auch in West-Sumatra mehr Einfluss des Islam beansprucht wurde, setzte man sich deutlich von dem in anderen Regionen Indonesiens häufigen Ruf nach der Einführung der Sharia ab. Die magische Formel „Adat beruht auf der Sharia, die Sharia auf dem Koran“ mag vor allem ideologisch von Bedeutung sein; sie hat jedoch sicher dazu beigetragen, dass sich in West-Sumatra keine extreme islamistische Bewegung hat durchsetzen können.

Benda-Beckmann, F. v.; Benda-Beckmann, K. v.
Recentralization and decentralization in West Sumatra.
In: Holtzappel, C. J. G.; Ramstedt, M. (eds.), Decentralisation and regional autonomy in Indonesia: Implementation and challenge. Singapore: Institute of Southeast Asian Studies, 2009, 291–326.
Bahar, S.; Tadjoeddin, M. Z.
Masih ada harapan: Posisis sebuah etnik minoritas dalam hidup berbangsa dan bernegara.
Jakarta: Yayasan Sepuluh Agustus, 2004.
Dt. Bagindo, A.
Polemik adat Minangkabau di Internet.
Jakarta: Yayasan Citra Pendidikan Indonesia dan Lembaga adat. Kebudayaan Minangkabau (LAKM), 2008.
Benda-Beckmann, F. v.; Benda-Beckmann, K. v.
Beyond the law-religion divide: Law and religion in West Sumatra.
In: Kirsch, T. G.; Turner, B. (eds.), Permutations of order: Religion and law as contested sovereignties. Farnham and Burlington: Ashgate, 2009, 227–246.
Benda-Beckmann, F. v.; Benda-Beckmann, K. v.
Ambivalent identities: Decentralisation and Minangkabau political communities.
In: Klinken G. v.; Schulte-Nordholt, H. (eds.), Renegotiating boundaries: Local politics in post Suharto Indonesia. Leiden: KITLV Press, 2007, 417–424.
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