Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Eisenforschung GmbH

Ab initio Beschreibung von Eisen: Extreme Zugbelastungen und Phasendiagramme bei endlichen Temperaturen

Autoren
Friak, Martin; Grabowski, Blazej; Neugebauer, Jörg
Abteilungen

Computergestütztes Materialdesign (Prof. Neugebauer) (Prof. Dr. Jörg Neugebauer)
MPI für Eisenforschung GmbH, Düsseldorf

Zusammenfassung
Technologisch relevante elastische Eigenschaften von Eisen, die Zugspannung, die Phononendispersion und die thermische Ausdehnung, wurden auf der Grundlage moderner quantenmechanischer Methoden berechnet. Diese Methoden erlauben eine genaue und realistische Beschreibung von Materialeigenschaften und kommen ohne Verwendung von experimentellen/empirischen Eingabegrößen aus. Die Leistungsfähigkeit dieses Zugangs wird für Eisen an zwei Beispielen demonstriert: Die Zugspannung wird für extreme Belastungen entlang zweier unterschiedlicher kristallographischer Richtungen, [001] und [111], untersucht. Im zweiten Teil wird diskutiert, wie sich diese Methoden, welche streng genommen nur bei T = 0K gelten, zur Beschreibung von Materialeigenschaften bei endlichen Temperaturen einsetzen lassen.

1. Motivation

Bei der Entwicklung neuer Produkte wird es immer wichtiger, Materialien und Werkstoffe mit ganz spezifischen – maßgeschneiderten – Eigenschaften zu entwickeln. Ein Beispiel ist die Automobilindustrie, welche zur Reduktion des Treibstoffverbrauchs und zur Erhöhung der Sicherheitsstandards leichte und gleichzeitig hochfeste Stähle benötigt. Eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung maßgeschneiderter Materialien/Werkstoffe ist die Verfügbarkeit von computergestützten Simulationsmethoden, die eine realistische Beschreibung mit hoher Vorhersagegenauigkeit erlauben. Ein Problem bei der Beschreibung von realen Werkstoffen ist die hohe räumliche und chemische Komplexität dieser Strukturen auf verschiedensten Längen-, Zeit- und Energieskalen, d.h., eine realistische Beschreibung von Werkstoffen erfordert einen hierarchischen Ansatz. Ausgangspunkt dabei sind Prozesse und Eigenschaften auf der atomaren Skala (elektronische Struktur, chemische Bindung), die wiederum die Eigenschaften auf der nächst höheren Skala wie Versetzungsbildung und Beweglichkeit und damit letztlich Eigenschaften auf der Makroskala wie Bruchfestigkeit oder Plastizität bestimmen [1-3].

Obwohl dieser hierarchische Zusammenhang schon seit mehr als 100 Jahren bekannt ist, kommt man erst jetzt in den Bereich, in dem Hochleistungsrechner und Methoden leistungsfähig genug sind, diesen für ausgewählte Fragestellungen und Systeme auf dem Computer nachzubilden. Ausgangspunkt ist dabei die genaue Beschreibung der Elektronenstruktur – und damit der chemischen Bindung – mittels quantenchemischer Methoden wie der Dichtefunktionaltheorie. Das Besondere an diesen Verfahren ist, dass sie die Natur auf dem elementarsten Level abbilden, d.h. nur Grundprinzipien wie die Quantenmechanik und die Elektrodynamik mit den dazugehörigen extrem genau bestimmten Fundamentalkonstanten verwenden. Damit sind diese Verfahren frei von empirischen bzw. experimentell zu bestimmenden Parametern (ab initio Methoden) und ermöglichen somit eine bisher nicht erreichbare Vorhersagegenauigkeit. Im vorliegenden Artikel wird am Beispiel von ferromagnetisch kubisch-raumzentriertem (krz) Eisen gezeigt, wie diese Methoden sich zur Beschreibung von technisch relevanten Materialeigenschaften wie Bruchfestigkeit bzw. thermische Ausdehnung einsetzen lassen und welche Genauigkeit im Vergleich zum Experiment mit den gegenwärtig verfügbaren Methoden möglich ist.

2. Ab initio berechnetes Verhalten von Eisen unter extremen Zugbelastungen

Beim Zugbelastungstest wird eine Probe auseinander gezogen. Bei kleinen Zugspannungen verlängert sich die Probe elastisch und kommt zur ursprünglichen Länge zurück, nachdem die Spannung entfernt wurde. Eine obere Grenze wird durch die Reißspannung gesetzt, bei der das Material zerreißt. Der Wert dieser Reißspannung ist eng mit der Nukleation und Mobilität von Versetzungen und Mikrorissen verknüpft. Bei Abwesenheit solcher Defekte, wie im Fall unserer Studie, bricht das Material nur, wenn die ideale (auch theoretische genannt) Reißspannung erreicht wird. Die ideale Reißspannung ist also als die minimale Spannung definiert, welche nötig ist, einen defektfreien Kristall zur elastischen Instabilität zu treiben. Sie legt somit die obere Grenze für Zugspannungen fest, denen ein Material ohne Funktionsverlust ausgesetzt werden kann und ist damit eine wichtige Kenngröße bei der Entwicklung neuer Materialien. Die computergestützten Methoden, welche bei uns zur parameterfreien Vorhersage der idealen Reißspannung entwickelt wurden, werden im Folgenden kurz skizziert.

Methodik

Die Simulation eines Zugbelastungstests (siehe Abb. 1a) beginnt mit der Bestimmung der Gesamtenergie des zu untersuchenden Materials in der Kristallstruktur, die auch in der Natur die so genannte Grundzustandsstruktur darstellt. Im zweiten Schritt wird das Material entlang der Belastungsachse um eine festgehaltene Größe ε gedehnt, was der Anwendung einer bestimmten Zugspannung σ entspricht. Hierbei muss beachtet werden, dass in jedem Material bei Anlegen solcher Belastungen die internen Spannungen abgebaut werden müssen. Im Falle einer Zugbelastung ist dies die Längenkontraktion senkrecht zur Zugrichtung (d.h. die Poisson-Kontraktion; siehe grüne Pfeile in Abb. 1b). Dieser Relaxationsprozess entspricht einer Minimierung der Gesamtenergie entlang der senkrecht zur Zugrichtung stehenden Seiten.

Diese beiden Schritte, die Dehnung und die interne Relaxation, werden für verschiedene Dehnungen ε durchgeführt, um die Abhängigkeit der Gesamtenergie bezüglich der Zugbelastung in einem großen Wertebereich zu erhalten (auch über den Punkt der Reißspannung hinaus).

Die Spannung σ des Materials ist gegeben durch die Gleichung in Abbildung 2a, wobei E die quantenchemisch berechnete Gesamtenergie und V das Volumen der entsprechenden Einheitszelle ist. Der Wendepunkt in der Abhängigkeit der Gesamtenergie als Funktion der Dehnung liefert den Wert für die Reißspannung. Bei Abwesenheit anderer Instabilitäten (Verletzung einer Stabilitätsbedingung, Phonon-Softening, Spinumordnung, etc.) vor dem Wendepunkt entspricht dieser auch der idealen Reißspannung.

Ergebnisse

Ein wichtiges Charakteristikum kristalliner Stoffe ist ihre Anisotropie, d.h. die Änderung von Kristalleigenschaften für unterschiedliche Orientierungen. Um dieses Phänomen zu illustrieren, wurde ein Zugbelastungstest für Eisen in zwei unterschiedliche Richtungen, [001] und [111], simuliert. Die Resultate sind in Abbildung 2a dargestellt.

Aus Abbildung 2b wird ersichtlich, dass die Gesamtenergie ein konvexes parabolisches Profil in der Nähe des Minimums hat, welches der ferromagnetischen krz-Struktur angehört (Grundzustand vom Eisen). Mit wachsendem ε-Wert erreicht die Kurve aufgrund nichtlinearer Effekte ihren Wendepunkt und wird konkav. Eine starke Anisotropie der elastischen Eigenschaften von Eisen wird deutlich durch den Unterschied in den [001]- und [111]-Kurven.

Der Wendepunkt und damit die maximale Zugspannung wird im Falle der [111]-Richtung für wesentlich größere Dehnungen und Energien erreicht als in die [001]-Richtung. Zugspannungen abgeleitet aus der Gesamtenergieabhängigkeit sind in Abbildung 2c dargestellt. Die maximale Zugspannung wurde in [001]-Richtung bei ε = 0,15 und in [111]-Richtung bei für ε = 0,27 erreicht. Die ideale Zugspannung beträgt somit 12,7 respektive 27,3 GPa.

Ab initio Berechnungen eröffnen damit den Zugang zu extremen GPa-Zugspannungen, welche experimentell nicht bzw. nur mit hohem Aufwand zugänglich sind. Detaillierte Informationen zur Anwendung dieser Konzepte wurden in Ref. [4] für Eisen und in Ref. [5] für Disilizide von Übergangsmetallen gegeben. Eine Übersicht findet sich in Ref. [6].

3. Ab initio berechnete Phononendispersion und thermische Ausdehnung für Eisen: Eine Anwendung der Freie-Energie-Oberflächen

Eine aussichtsreiche Methode zur ab initio Untersuchung von kristallinen Materialien bei endlichen Temperaturen stellen die Freie-Energie-Oberflächen (Ref. [7]) auf Basis der quasiharmonischen Näherung dar. Ihre Anwendung erlaubt eine direkte Berechnung aller temperaturabhängigen Größen, welche aus den Vibrationseigenschaften der Gitteratome hervorgehen. Darunter fallen beispielsweise technisch wichtige Größen wie die thermische Ausdehnung und die Temperaturabhängigkeit des Kompressionsmoduls. Weiterhin lassen sich mit diesem Zugang auch temperaturgetriebene strukturelle Phasenübergänge behandeln wie beispielsweise die krz-kfz (kubisch-raumzentriert –kubisch-flächenzentriert) Umwandlung in Eisen. Dies ermöglicht eine vollständig parameterfreie Beschreibung von thermodynamischen Phasendiagrammen.

Quasiharmonische Näherung

Der wesentliche Aspekt der quasiharmonischen Approximation liegt in der Separation zweier unterschiedlicher Sätze von Variablen eines Kristalls.

Der erste Satz von Variablen enthält alle internen Koordinaten des Systems, d.h. die Schwingungen der Atome um ihre Ruhelagen bei festgehaltenen Gittervektoren. Die Abhängigkeit der Energie von der Auslenkung der Atome entlang dieser Koordinaten lässt sich in sehr guter Näherung durch eine harmonische Beziehung beschreiben. Die harmonische Behandlung erlaubt dann die Entkopplung der internen Koordinaten untereinander und ermöglicht so die Abbildung auf ein System von entkoppelten harmonischen Oszillatoren. Die Schwingungsfrequenzen der Oszillatoren (Phononen) können direkt über die Kräfte aus einer ab initio Rechnung gewonnen werden. Eine für ferromagnetisches krz-Eisen gerechnete Phononendispersion zeigt Abbildung 3. Beim Vergleich mit experimentellen Daten ergibt sich eine gute Übereinstimmung. Für den niederfrequenten akustischen Phononenzweig in Г-N-Richtung liegt die Abweichung bei etwa 7% und bei den übrigen Phononenzweigen bei etwa 3%.

Der zweite Satz von Variablen beinhaltet die Änderung der Gittervektoren bezüglich ihrer Länge und der Winkel zwischen ihnen. Insgesamt findet man 6 solcher unabhängiger Größen, die auch als externe Parameter bezeichnet werden. Die externen Parameter können nicht ausreichend akkurat durch eine harmonische Näherung beschrieben werden, da sie sich in der Regel durch starke Anharmonizität in der Energieabhängigkeit auszeichnen, z.B. das Lennard-Jones- oder Doppelmulden-Potenzial. Es folgt damit, dass eine exakte Behandlung, die über die harmonische Näherung hinausgeht, nötig ist. Diese kann dadurch erreicht werden, dass man für verschiedene externe Parameter jeweils eine harmonische Näherung durchführt. Diese bezeichnet man dann als quasiharmonische Näherung.

Freie-Energie-Oberflächen

Hat man die harmonische Approximation für einen interessierenden Satz von externen Parametern durchgeführt und somit die entsprechenden Phononenfrequenzen (abhängig nicht nur vom Wellenvektor innerhalb der Brillouin-Zone, sondern auch von den externen Parametern!) erhalten, so kann man mithilfe des „kanonischen Ensemble“-Konzeptes aus der statistischen Physik direkt die Freie-Energie-Oberflächen (free-energy surfaces: FES) bestimmen. Konkret heißt dies, dass die kanonische Zustandssumme aus der mit dem Boltzmann-Faktor gewichteten Summation über alle Phononenfrequenzen der Brillouin-Zone bestimmt wird. Mit der ebenfalls aus der statistischen Physik bekannten Beziehung F(T,{a})=kB T lnZ(T,{a}) (kB: Boltzmann-Faktor, T: Temperatur, Z: Zustandssumme, {a}: Satz der externen Parameter) lässt sich dann eine FES konstruieren. Dabei überträgt sich die Abhängigkeit der Phononenfrequenzen von dem Satz der externen Parameter {a} auf die Zustandssumme Z=Z(T,{a}) und weiter auf die Freie Energie F=F(T,{a}).

Interessant wird eine FES dadurch, dass ihr Minimum die stabile Phase bei einer bestimmten Temperatur darstellt. Variiert man als externen Parameter beispielsweise das Volumen einer kubischen Phase, so erhält man aus der zugehörigen FES die thermische Ausdehnung. Jeweils eine FES für verschiedene Temperaturen und die thermische Ausdehnung vom ferromagnetischen krz-Eisen sind in Abbildung 4 dargestellt. Der Vergleich der relativen linearen Ausdehnung ist in sehr guter Übereinstimmung mit experimentellen Werten. Die Abweichung der relativen Ausdehnung von den experimentellen Daten liegt bei etwa 5%. Es ist ebenfalls möglich, die FES für strukturell unterschiedliche Phasen zu berechnen und so die Temperaturabhängigkeit der Phasen mit einem eventuellen Phasenübergang zu bestimmen. Die Untersuchungen zu dem krz-kfz-Phasenübergang in Eisen werden derzeit bei uns durchgeführt.

4. Zusammenfassung

Ab initio Methoden haben sich in vielen Bereichen der Materialwissenschaft und zur Beantwortung unterschiedlichster Fragestellungen als präzises Werkzeug mit hoher Vorhersagegenauigkeit erwiesen. Im vorliegenden Artikel wurde die Leistungsfähigkeit dieses Zugangs für die numerische Simulation der Eigenschaften von Eisen unter voller Berücksichtigung der komplexen magnetischen Struktur untersucht. Im ersten Teil wurde dabei auf die für den Einsatz dieses Materialsystems technologisch wichtigen Brucheigenschaften eingegangen. Im zweiten Teil wurde skizziert, wie sich durch Kombination der quantenchemischen Zugänge mit thermodynamischen Konzepten Materialeigenschaften bei endlichen Temperaturen berechnen lassen. Die damit erzielbare hohe Vorhersagegenauigkeit wurde an zwei thermodynamischen Schlüsselgrößen (Phononenspektrum, thermische Ausdehnung) demonstriert. Gegenwärtig konzentrieren sich unsere Aktivitäten darauf, mehr und mehr die Komplexität realer Materialien in unsere Simulationen einzubeziehen. So wird zum einen untersucht, welche Rolle Defekte (z.B. Vakanzen, Versetzungen, Fremdatome) auf die maximale Zugbelastung haben. Zum anderen steht im Fokus unserer Anstrengungen die Berechnung struktureller Phasenübergänge und von thermodynamischen Phasendiagrammen auf der Basis von ab initio Methoden.

Danksagung

Wir danken Prof. Mojmir Sob vom Institut Materialphysik der tschechischen Akademie der Wissenschaften in Brno in der Tschechischen Republik für die vielen stimulierenden Diskussionen zu Fragen der ab initio Zugbelastungsrechnungen.

Originalveröffentlichungen

A. F. da Fonseca und D. S. Galvao:
Mechanical Properties of Nanosprings.
Physical Review Letters 92, 175502 (2004).
A. Greer:
Nanostructure by nucleation.
Nature 368, 688 (1994).
M. Varela, S. D. Findlay, A. R. Lupini, H. M. Christen, A. Y. Borisevich, N. Dellby, O. L. Krivanek, P. D. Nellist, M. P. Oxley, L. J. Allen und S. J. Pennycook:
Spectroscopic Imaging of Single Atoms Within a Bulk Solid.
Physical Review Letters 92, 095502 (2004).
M. Friak, M. Sob und V. Vitek:
Ab initio calculation of tensile strength in iron.
Philosophical Magazine 83, 3529 (2003).
M. Friak, M. Sob und V. Vitek:
Ab initio study of the ideal tensile strength and mechanical stability of transition-metal disilicides.
Physical Review B 68, 184101 (2003).
B. Grabowski:
Ab initio based free-energy surfaces: Method development and application to aluminum and iron.
Diplomarbeit, Universität Paderborn (2005).
S. Klotz und M. Braden:
Phonon Dispersion of bcc Iron to 10 GPa.
Physical Review Letters 85, 3209 (2000).
Y.S. Touloukian:
Thermophysical Properties of Matter, Vol. 12, Thermal Expansion.
IFI/Plenum, New York (1975).
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