Musizieren verändert die Verarbeitung mehrfacher Sinnesreize im Gehirn

Durch Fingerübungen am Klavier werden Schaltkreise neu verknüpft

22. November 2011

Klavierspieler entwickeln über die Jahre ein besonders präzises Gespür dafür, wie die Tastenbewegungen und Töne zeitlich zusammenhängen. Ob aber Lippenbewegungen und Sprache synchron zueinander sind, können sie nicht besser beurteilen als Nichtmusiker. Das haben Forscherinnen vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen bei einer Vergleichsstudie mit Musikern und Nichtmusikern zur gleichzeitigen Reizverarbeitung aus mehreren Sinnen im Gehirn festgestellt. Sie setzten bei ihren Experimenten auch die funktionelle Magnetresonanztomografie zur Darstellung der jeweils aktiven Gehirnbereiche ein. Danach ruft bei Pianisten die Wahrnehmung asynchroner Musik und Handbewegungen  verstärkte Fehlersignale in einem Schaltkreis zwischen Kleinhirn, prämotorischen und assoziativen Hirnarealen aus, der sich durch das eigene Spiel besonders ausbildet. Die Studie zeigt, dass unsere sensomotorische Erfahrung prägt, wie das Gehirn Signale von unterschiedlichen Sinnen in der Wahrnehmung zeitlich verknüpft.

In einer Welt voller Reize, die alle Sinne betreffen, muss das menschliche Gehirn ständig die Eindrücke sinnvoll in der Wahrnehmung verknüpfen. Dabei lernt man durch Erfahrung, dass etwa in einer lebhaften Kneipenatmosphäre synchrone Ereignisse wie die Lippenbewegungen einer bestimmten Person und das Hören einer bestimmten Stimme auch zusammengehören. HweeLing Lee und die Arbeitsgruppenleiterin Uta Noppeney vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen erforschen, wie das Gehirn Reize mehrerer Sinne integriert und wie sich durch Lernen die Verschaltungen ändern. In ihrer neuen Studie haben sie verglichen, wie gut 18 Amateurpianisten gegenüber 19 Nichtmusikern die zeitliche Übereinstimmung einerseits von Fingerbewegungen auf der Tastatur und einer Melodie beziehungsweise andererseits von Lippenbewegungen und gesprochenen Sätzen wahrnehmen können. „Für diese Studie haben wir uns zunutze gemacht, dass die Pianisten seit vielen Jahren speziell diese Tätigkeit trainieren, bei der mehrere Sinnesreize, nämlich Seh- und Hörinformationen, Bewegung und die Berührung der Klaviertasten verbunden werden müssen“, erklärt Uta Noppeney.

Die Finger- beziehungsweise Mundbewegungen wurden im Versuch in Abstufungen bis zu 360 Millisekunden verfrüht bis verzögert gegenüber dem Gehörten präsentiert. Die Studienteilnehmer sollten auf Nachfrage jeweils angeben, ob die Ereignisse synchron oder asynchron zueinander sind. Mit dem gleichen Film- und Tonmaterial und den gleichen Studienteilnehmern wurden die Experimente mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie wiederholt. Dabei bleibt die Person passiv und das Gerät misst, welche Bereiche des Gehirns bei der automatischen Wahrnehmung von synchronen und asynchronen Signalen im Experiment aktiv werden.

Die Experimente ergaben, dass Pianisten deutlich genauer als Nichtmusiker merkten, ob die Fingerbewegungen am Klavier und die gehörten Töne in der zeitlichen Abfolge übereinstimmten oder nicht. „Bei ihnen ist das Fenster der zeitlichen Integration der Reize deutlich schmaler als bei ungeübten Personen“, sagt HweeLing Lee. Allerdings zeigten sich diese Unterschiede bei den Experimenten mit gesprochenen Sätzen und Lippenbewegungen nicht – hier schnitten beide Gruppen ähnlich ab. Asynchronizität bei Sprache und Musik aktiviert im Gehirn prinzipiell die gleichen Bereiche. Doch die funktionelle Magnetresonanztomografie zeigte, dass asynchrone Musik im Versuch bei den Klavierspielern gegenüber den Nichtmusikern ein verstärktes Signal in einem Schaltkreis zwischen dem linken Kleinhirn, einer prämotorischen und assoziativen Region der Großhirnrinde hervorruft.

„Die Reizverarbeitung im Gehirn der Klavierspieler deutet auf einen kontextspezifischen Mechanismus hin: Durch das Üben am Klavier wird im Schaltkreis von Kleinhirn und prämotorischer Großhirnrinde ein Vorwärtsmodell programmiert, das der Person sehr viel präzisere Vorhersagen über den korrekten zeitlichen Ablauf der Seh- und Hörsignale ermöglicht“, erklärt Uta Noppeney. Darein würden auch die Berührungs- und Bewegungserfahrungen aus dem eigenen Spiel integriert. „Ein asynchroner Reiz meldet einen Fehler bei der Vorhersage.“ Die Forscherinnen sehen dies als wichtigen Hinweis, wie das Gehirn allgemein plastisch auf sensomotorische Erfahrungen reagieren kann. Ob Pianisten bei der Beurteilung von Geigenmusik ähnlich gut abschneiden würden oder ob intensiveres Musizieren Einfluss auf die Sprachverarbeitung im Gehirn hat, sind ausstehende Fragen. „Der nächste Untersuchungsschritt bei der Verarbeitung mehrfacher Sinnesreize im Gehirn muss sein, dass wir die Studienteilnehmer selbst gezielt trainieren, um die Effekte genauer zu untersuchen“, sagt Uta Noppeney.

JE/HR

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