Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Globale Städte – Offene Städte? Segregation im Globalen Süden

Autoren
Vigneswaran, Darshan
Abteilungen
Abteilung für soziokulturelle Vielfalt (Steven Vertovec) , Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Göttingen
Zusammenfassung
Warum schafft die Globalisierung keine offenen Städte, in denen Einwohner sich frei bewegen können? In Südafrika und Indien sind die neuen urbanen Eliten eng mit der globalen Wirtschaft und Kultur verflochten. Gleichzeitig bedeutet die Trennung von ihren direkten Nachbarn in Slums und Townships ein beispielloses Hemmnis für die Entwicklung marginalisierter Gemeinschaften. Ein Vergleich der beiden Großstadtmetropolen Johannesburg und Mumbai gibt Aufschluss über die verschiedenen Ausprägungen der Segregation.

Das Projekt „Global Cities/Open Cities?“ am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften untersucht ein städtisches Paradoxon: Während die Globalisierung die Weltbevölkerung immer mehr verbindet, entstehen gleichzeitig immer höhere Schranken zwischen benachbarten Bevölkerungsgruppen. Die rasche Expansion der Wirtschafts-, Verkehrs- und Kommunikationsnetze hat Forscher den „Tod der Distanz“ [1] verkünden lassen. Doch in den sogenannten Global Cities – den Großstadtmetropolen und Knotenpunkten der internationalen Wirtschaft – leben viele wirtschaftliche, religiöse und ethnische Gruppen „parallele Leben“: nebeneinander, aber nicht miteinander. Die Eliten in New York, London und Paris reisen um die Welt, arbeiten für multinationale Unternehmen und haben transnationale Kreise virtueller „Freunde“. Gleichzeitig werden Wachleute, Hausangestellte und Angestellte im Handel in Ghettos, Wohnsiedlungen und Vorstädten marginalisiert.

Da sich sowohl die Weltbevölkerung als auch Migrationsmuster verändern, wird dieses Phänomen innerhalb des Globalen Südens untersucht. Nach der Auffassung der Vereinten Nationen ist „Bevölkerungswachstum im Wesentlichen ein städtisches Phänomen, das sich in den Entwicklungsländern konzentriert“. Dabei wird prognostiziert, dass zwischen 2000 und 2050 die städtische Bevölkerung in Asien um 1,7 Milliarden wachsen wird, in Afrika um 800 Millionen und in Lateinamerika und der Karibik um 200 Millionen [2]. Während immer mehr Menschen immer rascher in die Städte des Südens ziehen, sehen sie nach ihrer Ankunft ihren Handlungsspielraum in der Regel stark eingegrenzt. Die großen sozialen Unterschiede in Städten wie Mumbai und Johannesburg werden durch die harten räumlichen Grenzen zwischen der Stadt der Eliten und Privilegierten und ihrem urbanen Rand aus Slums und Townships, den Großwohnsiedlungen für ärmere Bevölkerungsschichten, verstärkt. Durch das Fehlen von funktionierenden sozialen Sicherungssystemen hat diese Segregation starke Auswirkungen auf die Marginalisierten und Entrechteten. Laut UN-Habitat, dem Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen, leben die meisten der weltweit 900 Millionen Slumbewohner „unter Bedingungen, die Leben und Gesundheit bedrohen“ [3]. Während Segregation in Chicago den Zugang der Bewohner zu Beschäftigung und Bildung beeinflussen kann, kann Segregation in Mumbai das Fehlen von sanitären Einrichtungen, einer Notfallversorgung oder eines funktionierenden Justizsystems bedeuten.

Stand der Forschung

Die Forschung hat mit der Veränderung der globalen Verteilung der Bevölkerung nicht Schritt gehalten. Der Schwerpunkt liegt immer noch auf einer kleinen Zahl von Städten in Nordamerika und Europa, die nur einen schrumpfenden Anteil der Stadtbevölkerung weltweit beherbergen (Abb. 1). Wenn Forscher heute untersuchen wollen, wie Segregation in einer „durchschnittlichen“ Stadt aussieht, müssen sie die Orte auswählen, in denen die meisten Stadtbewohner leben.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus den Unzulänglichkeiten der Forschungsmethodik angesichts des sich wandelnden Charakters der Segregationsmuster. Segregationsforscher verwenden weiterhin Analysemethoden, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Nordamerika entwickelt wurden [4, 5]. Segregation wurde zunächst vor allem als Verteilung der Rassen in separaten privaten Räumen verstanden. Das Forschungsinteresse kann in einer Frage zusammengefasst werden: „Warum schlafen schwarze und weiße Menschen in verschiedenen Teilen der Stadt?“ Inzwischen wird dieses getrennte Wohnen aber durch eine neue Infrastruktur der Segregation in öffentlichen Räumen verschärft. Zunehmende Kommerzialisierung und erhöhte Sicherheitsanforderungen erschaffen eine neue urbane Gestalt mit Kennzeichen der modernen Stadt: Überwachungskameras, Stacheldraht, geschlossene Wohnanlagen, Einkaufszentren, magnetkartenbasierte Sicherheitssysteme und private Fitness-Studios. Für eine kleine Zahl von Städten hat die ethnografische Forschung gezeigt, wie sich diese Entwicklungen auf bestimmte Gruppen auswirken [6, 7], aber es fehlt an einer allgemeinen Theorie der städtischen Segregation im öffentlichen Raum.

Neue Forschungsansätze für moderne Stadtentwicklungen

Welche Kräfte erschaffen die räumlichen Grenzen in den Städten der Dritten Welt? Für zwei aufstrebende Global Cities erfassen, lokalisieren und beschreiben Forscher am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in einer vergleichenden Studie die hinter der Segregation stehenden grundlegenden Kräfte. Das Forschungsinteresse richtet sich dabei auf jene Orte, an denen die meisten Menschen leben: die Städte des Globalen Südens. Die Genauigkeit der räumlichen Analyse wird dabei durch die Nutzung von komplexen Programmen zur Visualisierung und Analyse von Daten mit räumlichem Bezug in digitalen Landkarten (geografische Informationssysteme, GIS) verbessert.

Die Studie konzentriert sich empirisch auf Segregations-„Grenzen“. Diese Grenzen „markieren Gebiete, in denen wir voneinander isoliert sind, bestimmen, mit wem wir interagieren und uns zusammenschließen und das Ausmaß, in dem wir frei sind, uns von einem Raum zum anderen zu bewegen“ [8]. Neue Forschungen im Bereich der GIS stellen Werkzeuge bereit, die die Möglichkeiten, städtische Räume zu messen, zu visualisieren und zu analysieren, verbessern. Inzwischen haben verschiedene Forscherteams umfangreiche Sammlungen von Daten zu städtischen Räumen und ihrer Bevölkerung zusammengestellt. Allerdings wurde ihre innovative Arbeit nicht ausreichend durch Vergleiche innerhalb des Globalen Südens abgesichert. Demzufolge haben Forscher aus dem „Norden“ diese Ergebnisse oft vorschnell als „Ausreißer“ abgewertet.

Ursachen und unterschiedliche Wege der Segregation werden über drei sich entwickelnde Städte hinweg verglichen. Die Studie kombiniert breites statistisches Material zum Entwicklungsstand der Städte mit detaillierten heuristischen Untersuchungen zu ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Insbesondere zwei Fälle repräsentieren das weite Spektrum von Städten in Entwicklungsländern: Johannesburg und Mumbai. Beide Städte sind durch ihr koloniales Erbe stark geprägt, sie beherbergen eine große Zahl von internen und transnationalen Migranten und zeichnen sich durch extreme wirtschaftliche Ungleichheit, illegale Wohnverhältnisse, Korruption, bürokratische Missstände und Gewalt aus. Neben diesen Gemeinsamkeiten sollen die Differenzen zur Basis weitergehender theoretischer Überlegungen werden. Ein Beispiel sind die Unterschiede bei Kriminalität und Unsicherheit. Die Quote der Gewaltverbrechen liegt in Mumbai deutlich niedriger als in Johannesburg. Bedeutet dies nun, dass die Bewohner Mumbais sich im öffentlichen Raum sicher fühlen und begegnen, während die Johannesburger sich hinter Schranken, Stacheldraht und Wachdienste zurückziehen?

Das Projekt „Global Cities/Open Cities?“ kann nicht das „Modell“ der Segregation in Globalen Süden formulieren oder Johannesburg und Mumbai als Beispiele verwenden, um die Situation der Städte in den jeweiligen Kontinenten und Nationen zu verallgemeinern. Vor dem Hintergrund, dass Menschen immer schneller in die Städte der Entwicklungsländer ziehen, soll vielmehr das Verständnis, mit dem Segregation als soziales und räumliches Phänomen konzipiert wird, deutlich verbreitert werden. Modelle, die die reichsten Städte der entwickelten Welt als Vorlage für die urbane Zukunft sehen [9], werden infrage gestellt, und die Forscher prüfen, ob die Städte, die wir als „Ausreißer“ oder „Dystopien“ sehen, nicht das realistischere Bild der neuen urbanen Normalität bieten. Über ethnische und rassische Kategorien, die die Literatur zur Segregation dominiert haben, hinaus, wird untersucht, wie alternative Formen der sozialen Differenzierung (etwa Kaste, Stamm, und Status) unterschiedliche Einstellungen zu räumlichen Grenzen, Entfernungen und Trennung bedingen. Theoretiker, die sich dafür interessieren, wie gegenwärtig Mobilität geregelt und gesteuert wird, haben ihre Aufmerksamkeit an nationalen Grenzen ausgerichtet. Durch die intensive Analyse der Muster der räumlichen Steuerung und Distanzierung im öffentlichen Raum bietet das Forschungsprojekt „Global Cities/Open Cities?“ im Gegensatz hierzu neue Ideen, wie Neoliberalisierung und erhöhte Sicherheitsvorkehrungen sich auf die menschliche Mobilität und die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen auswirken.

Cairncross, F.
The Death of Distance: How the Communications Revolution Will Change Our Lives.
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