Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften

Mehrskalenanalyse der Auswirkungen stochastischer Effekte in Modellen der Materialwissenschaften.

Autoren
Dirr, Nicolas
Abteilungen

Mathematische Modelle in den Materialwissenschaften (MPG) (Dr. Nicolas Dirr)
MPI für Mathematik in den Naturwissenschaften, Leipzig

Zusammenfassung
Modelle für Materialien auf Längenskalen der täglichen Erfahrung setzen Größen zueinander in Beziehung, die durch Mittelung über viele Freiheitsgrade einer feineren Skala entstanden sind. Die Abweichungen von diesem Mittel aufgrund thermischer Effekte oder Verunreinigungen sind oft vernachlässigbar, können aber in manchen Situationen auf der groben Skala beobachtbare Auswirkungen haben, was durch mathematische Untersuchung eines Beispielmodells verdeutlicht wird.

Zufällige Fluktuationen und die Überbrückung von Längenskalen

Überbrückung von Längenskalen bedeutet, aus einem Modell auf einer sehr feinen Skala, z.B. auf der atomaren Längenskala, Eigenschaften eines durch geeignete „Mittelung” entstandenen effektiven Modells auf der für die jeweilige Anwendung relevanten Skala herzuleiten. Das effektive Modell kann dann numerisch behandelt werden, was für das ursprüngliche Modell wegen der großen Zahl von Freiheitsgraden oft nicht möglich ist.

Die Überbrückung von Längenskalen ist gegenwärtig eine der größten Herausforderungen für die Angewandte Mathematik und war von Beginn an ein Forschungsschwerpunkt unseres Instituts. Dabei wird die Berücksichtigung zufälliger (stochastischer) Effekte immer wichtiger.

Realistische Modelle beinhalten stets zufallsabhängige Größen, sei es in Form zufällig im Kristall verteilter Fremdatome oder sei es durch Berücksichtigung temperaturabhängiger (thermischer) Schwingungen der Atome. Die Modellierung dieser Zufallsabhängigkeit ist selbst eine faszinierende Frage, die aber nicht weiter vertieft werden soll, denn das Thema hier sind die Effekte dieser zufälligen Fluktuationen beim Übergang zu einer gröberen Längenskala.

Es sei also ein zufallsabhängiges Modell auf der Mikroskala gegeben. Das effektive Modell auf der Makroskala setzt gemittelte Größen zueinander in Beziehung. Diese Mittelung über sehr viele Freiheitsgrade bewirkt, dass sich die zufälligen Fluktuationen weitgehend herausmitteln. Dieser Effekt, auch als „Gesetz der Großen Zahlen” bekannt, erklärt, warum die Untersuchung deterministischer Modelle mit Methoden der Variationsrechnung so erfolgreich zahlreiche experimentelle Resultate erklären kann, siehe z.B. [2].

Die entscheidende Größe dabei ist die Freie Energie, die temperaturabhängig ist, d.h., die thermischen Fluktuationen sind als solche zwar herausgemittelt, beeinflussen aber das effektiven Modell indirekt über die Form der Freien Energie.

Makroskopische Auswirkungen zufälliger Fluktuationen

In gewissen Situationen können die geringen Abweichungen der gemittelten Größen von ihrem „typischen“ Wert Auswirkungen haben, die auf der Makroskala beobachtbar sind und nur durch direkte Berücksichtigung stochastischer (zufälliger) Effekte erklärt werden können. Ein Beispiel ist der Übergang eines Systems von einem lokalen Minimum der makroskopischen Freien Energie zu einem anderen, siehe Abbildung 1.

Das System bliebe im Prinzip „stecken“, da es nicht genügend Energie hat, um die Potenzialschwelle zu überwinden, es kann sich aber Energie von den Fluktuationen „borgen“. Da die Fluktuationen auf der Makroskala so klein sind, geschieht dies nur nach sehr langer Wartezeit.

Dieser Sachverhalt ist zum Beispiel dafür verantwortlich, dass magnetische Datenträger, z.B. Musikkassetten oder Festplatten, nach mehrjähriger Lagerzeit ihre als lokale Magnetisierungsrichtung gespeicherte Information verlieren: Die Magnetisierung der Körner geht von dem der gespeicherten Information entsprechenden lokalen Minimum nach einer zufälligen Wartezeit in ein anderes lokales Minimum über, sodass die Magnetisierung nach langer Zeit fast rein zufällig ist. Statt der gespeicherten Information bleibt nur „Rauschen“.

Die Rolle exakter Mathematik in der Modellierung

In der Arbeit [1] wurde der wahrscheinlichste Pfad bestimmt, auf dem sich ein Vielteilchensystem mithilfe stochastischer Fluktuationen von einem lokalen Minimum der makroskopischen Freien Energie zu einen anderen bewegen kann, d.h. für ein bestimmtes Modell wurde mathematisch bewiesen, dass bestimmte Pfade am wahrscheinlichsten sind.

Da unser Institut nicht nur die Mathematik, sondern auch die Naturwissenschaften im Namen trägt, ist zunächst zu klären warum ein solches Theorem für ein (stark vereinfachtes) Modell überhaupt von Interesse für die Naturwissenschaften sein kann.

Selbstverständlich ist Wissenschaft mehr als das Anpassen von Kurven an Messergebnisse, es geht um Verständnis der Zusammenhänge. Dieses Verständnis wird überprüft, indem Vorhersagen aufgrund des jeweiligen Modells erstellt und dann mit den tatsächlichen Beobachtungen verglichen werden. Je einfacher das zugrunde liegende Modell, desto besser das Verständnis.

Hier kommt die Mathematik ins Spiel. Sie erlaubt es, für eine große Klasse von Modellen Aussagen über das qualitative Verhalten abzuleiten. Diese Aussagen können dann dem Experiment gegenübergestellt werden, und dadurch kann das Modell gegebenenfalls falsifiziert werden.

Die mathematische Beweistechnik garantiert, dass unter den Modellannahmen notwendigerweise ein gewisses Verhalten des Modells zu beobachten ist, wodurch einige Modelle mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden können.

Sind Vorhersagen dagegen durch statistisches Anpassen von Kurven und numerische Extrapolation der so erzielten Kurve entstanden, so erlauben die notwendigen „Fehlerbalken“ oft nicht, eine Modellklasse zweifelsfrei auszuschließen, sodass die „Verteidigung“ eines Modells einen unerwünscht subjektiven Charakter erhält.

Die Mathematik arbeitet in der Regel mit vereinfachten Modellen. Das ist jedoch kein Nachteil, denn es lässt sich oft zeigen, dass das qualitative Verhalten von den Vereinfachungen nicht beeinflusst wird. Dann hat das vereinfachte Modell einen höheren Aussagewert: Weniger freie Parameter lassen weniger Spielraum, ein falsches Modell den Daten anzupassen.

Übergang zwischen verschiedenen Makrozuständen am Beispiel eines Vielteilchenmodells

Nachdem geklärt ist, welchen Wert exakte mathematische Resultate für die Naturwissenschaften haben, soll nun das Resultat der Arbeit [1] erklärt werden. Es handelt sich um ein stark vereinfachtes Modell für die Magnetisierung eines ferromagnetischen Materials mit starker Anisotropie.

Atomistische Skala

Auf der feinsten Skala, der so genannten atomistischen Skala, besteht das Modell aus auf einem Gitter angeordneten so genannten „Spins“, die entlang der von der Anisotropie bevorzugten Achse ausgerichtet sind und daher durch ihr Vorzeichen (+ oder −) hinreichend beschrieben sind (siehe Abb. 2).

Jeder Spin ändert seine Richtung nach einer zufälligen Wartezeit (Poisson-Prozess). Die Rate, mit der dies geschieht, hängt von der Wechselwirkung mit der gemittelten Magnetisierung der benachbarten Spins in einer großen Umgebung ab: Der Spin bevorzugt es, seine Richtung den Nachbarn anzupassen. Dieser stochastische Prozess wird als „Ising-Modell mit Kac-Wechselwirkung und Glauber-Dynamik“ bezeichnet.

Übergang zu gröberen Skalen

Der Übergang von der atomistischen zu der so genannten mesoskopischen Skala wird durch Mittelung über eine Anzahl von Gitterpunkten erzielt, die so groß ist, dass stochastische Fluktuationen durch ein „Gesetz der großen Zahlen“ gemindert werden, aber so klein gegenüber der Systemgröße ist, dass räumliche Änderungen der Magnetisierung noch sichtbar bleiben (siehe Abb. 3). Auf dieser Skala wird das System mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine deterministische nichtlineare Differentialgleichung beschrieben, die durch sehr kleine stochastische Fluktuationen gestört ist.

Große Abweichungen

Die von dem stochastischen Prozess auf der atomistischen Skala herrührenden Fluktuationen sind durch die Mittelung beim Übergang zu anderen Skalen zwar geschwächt, aber nicht verschwunden, und können daher Abweichungen vom Verhalten typischer Lösungen der oben erwähnten deterministischen Differentialgleichung erzeugen, z.B. den Übergang zwischen verschiedenen Minima der freien Energie bewirken. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen „großen“ (d.h. mit sichtbaren Auswirkungen verbundenen) Abweichung ist allerdings exponentiell klein, mit einer Rate, die durch ein so genanntes Ratenfunktional gegeben ist.

Bisher wurde nur über verschiedene Raumskalen gesprochen, nun spielt aber auch die Zeitskala eine Rolle. Da die Fluktuationen klein sind, befindet sich ein System, das anfänglich in einem Minimum der Freien Energie war, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch noch nach Verstreichen einer festen Zeit dort. Das bedeutet aber, dass sich auf jedem der folgenden Zeitintervalle das Experiment gewissermaßen wiederholt. Lange Zeitskalen sind also hier gleichbedeutend mit sehr häufiger Wiederholung eines Experiments, dadurch treten Ereignisse, die in jedem einzelnen Zeitintervall eine sehr kleine Wahrscheinlichkeit haben, dennoch nach hinreichend langer Wartezeit auf.

Die wahrscheinlichste Art, einen Übergang zwischen lokalen Minima der freien Energie zu realisieren, entspricht dem Minimierer des Ratenfunktionals unter Nebenbedingungen, die erzwingen, dass sich das System zuletzt in einem anderen Minimum der freien Energie als anfänglich befindet. Also gilt es, ein Problem der Variationsrechnung zu lösen.

Übergangspfad

In [1] wurde als Gebiet auf der groben Skala ein Würfel bzw. ein Quadrat gewählt. Der stochastische Prozess wurde so modifiziert (Neumann-Randbedingung), dass der Rand keine der beiden Magnetisierungsrichtungen bevorzugt.

Befindet sich das System anfänglich überall im + Zustand, einem Minimum der Freien Energie, so ist daher zu erwarten, dass die − Phase zuerst am „neutralen“ Rande des Gebiets in Erscheinung tritt. Auf diese Weise wird die Grenzfläche zwischen + und − Phase möglichst klein gehalten. (Die Spins versuchen, sich den Nachbarn anzupassen, daher sollte die Grenzfläche, also die Zone, in der die Nachbarn unterschiedlich sind, möglichst klein gehalten werden.) Dann wird das Teilgebiet, in dem die − Phase vorherrscht, wachsen und schließlich den ganzen Würfel ausfüllen. Damit ist der Übergang zu einem anderen Minimum der Freien Energie (überall − Phase) vollzogen.

Aber wie wächst die − Phase anfänglich? Die Form eines Teilgebiets des Quadrats, die bei gegebenem Volumen die Oberfläche minimiert, ist ein Kreissegment, sofern das Volumen sehr klein ist. Für großes Volumen ist es dagegen ein Rechteck. (Man beachte, dass wegen der Neumann-Randbedingungen der Rand des Teilgebiets, der auf dem Rand des Würfels liegt, nicht „zählt“, daher besteht die tatsächliche „Grenze“ des Rechtecks nur aus der einen Seite im Inneren des Quadrats.)

Es wurde aber in [1] gezeigt, dass der Pfad, der schließlich den Übergang zum − Zustand vollzieht, einem wachsenden Teilgebiet entspricht, das ständig eine „flache“ Grenze hat, siehe Abbildung 4.

Das bedeutet, dass es besser ist, anfänglich einen sehr unwahrscheinlichen Zustand zu wählen (bei gegebenem kleinen Volumen entsteht eine sehr große Grenzfläche), um später die − Phase leichter wachsen lassen zu können.

Originalveröffentlichungen

G. Bellettini, A. De Masi, N. Dirr, E. Presutti:
Tunneling in Two Dimensions.
Communications in Mathematical Physics, Vol. 269, No. 3, 715-763 (2007).
S. Conti, A. DeSimone, G. Dolzmann, S. Müller, F. Otto:
Multiscale Modeling of Materials - the Role of Analysis.
In: Trends in Nonlinear Analysis. (Eds.) M. Kirkilionis, S. Krömker, R. Rannacher und F. Tomi. Springer-Verlag, Heidelberg 2003, pp. 375-408.
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