Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Der Zusammenhang von Bildung und Lebenserwartung in Mittel- und Osteuropa

Autoren
Jasilionis, Domantas (MPIDR); Jdanov, Dmitri (MPIDR); Leinsalu, Mall (Stockholm Centre on Health of Societies in Transition, University College, Schweden)
Abteilungen

Demografische Daten (Vladimir Shkolnikov)
MPI für demografische Forschung, Rostock

Zusammenfassung
Der politische und sozioökonomische Wandel in den Ländern Mittel- und Osteuropas wurde von bemerkenswerten Unterschieden hinsichtlich der Sterblichkeitsmuster in der Bevölkerung begleitet. Estland, Litauen und Russland erfuhren einen Anstieg der Sterblichkeit in Verbindung mit großen Fluktuationen. Die Ergebnisse eines Forschungsprojekts am Max-Planck-Institut für demografische Forschung zeigen, dass Verbesserungen im Bildungsniveau der Bevölkerung den allgemeinen Anstieg der Sterblichkeit in Russland, Litauen und Estland spürbar ausgleichen konnten.

Unterschiede in der Sterblichkeit verschiedener sozioökonomischer Gruppen sind erst in jüngerer Zeit als eines der hauptsächlichen Probleme der Gesundheitspolitik und Gesundheitsvorsorge erkannt worden. Der 1980 veröffentlichte „Black Report“ hat einen beachtlichen Zuwachs an Forschungsliteratur zu diesem Thema in der Mehrheit der westlichen Länder zur Folge gehabt [1]. Vor Ende der achtziger Jahre wusste man nur wenig über die Situation in den damals noch kommunistischen Staaten. Die ersten verfügbaren Datensätze zu diesen zumindest formal egalitär ausgerichteten staatlichen und gesellschaftlichen Regimen zeigten, dass Sterblichkeitsunterschiede dort entweder ein gleiches Niveau erreichten oder sogar noch stärker ausgeprägt waren als im Westen [2]. Die politischen und sozioökonomischen Transformationen während der neunziger Jahre haben zu wachsenden Unterschieden in der Mortalitätsentwicklung geführt. So war einerseits in Estland, Litauen und Russland ein mit großen Fluktuationen verbundener Anstieg der Sterblichkeit zu beobachten, andererseits ging dieser Anstieg mit einer erheblichen Vergrößerung der Mortalitätsunterschiede nach Bildungsgruppen einher [3].

Bislang konzentrierten sich die meisten Untersuchungen solcher Ungleichheiten in Sterblichkeitsmustern vor allem auf deren Ausmaß und auf die Entwicklung der Diskrepanzen zwischen verschiedenen Bildungsgruppen. Diese Herangehensweise kann jedoch zu methodischen Problemen führen, da sich die Bevölkerungsgruppen mit der Zeit ebenfalls verändern können [3]. Verbesserte Bildungsangebote und soziale Aufstiegsmöglichkeiten können beispielsweise dazu führen, dass die Gruppe mit dem geringsten Bildungsgrad immer kleiner wird. Dadurch sind nur noch die sozial am stärksten benachteiligten und am ungesündesten lebenden Menschen in diesem Segment erfasst. Derartige Veränderungen in der Bevölkerungszusammensetzung führen folglich zu ungünstigen Trends bei den Gruppen mit dem niedrigsten sozioökonomischen Status und zu größer werdenden Mortalitätsunterschieden zwischen den Gruppen.

Die folgenden Ausführungen analysieren die Veränderungen in den Unterschieden bei der Lebenserwartung in ausgewählten mittel- und osteuropäischen Ländern während der Periode der sozioökonomischen Transformationen. Dazu werden die Auswirkungen von Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung nach Bildungsgrad und die Bedeutung der divergierenden Mortalitätstrends in den Bildungsgruppen aufgezeigt [3]. Neue Mortalitätsdaten aus Schweden und Litauen erweitern bereits veröffentlichte Materialien, die mit dem Zensus verknüpft wurden und von den statistischen Ämtern dieser Länder stammen.

Wachsende Unterschiede bei der Lebenserwartung nach Bildungsgrad

Abbildung 1 verweist auf eine bemerkenswerte Varianz sowohl in den durchschnittlichen als auch in den bildungsspezifischen Trends der Lebenserwartung in den ausgewählten Ländern zwischen Ende der achtziger und Ende der neunziger Jahre. In Finnland, Schweden und in der Tschechischen Republik stieg die Lebenserwartung sowohl in der Gesamtbevölkerung wie auch in sämtlichen Bildungsgruppen nachhaltig an. In Finnland und Schweden weisen die Bevölkerungsschichten mit hohem Bildungsgrad die stärksten Zunahmen in der Lebenserwartung auf, während der damit korrespondierende Zuwachs in der Lebenserwartung in der Tschechischen Republik stärker bei den Menschen mit mittlerem Bildungsgrad ausgeprägt ist. Aufgrund des abgeschwächten Rückgangs der Sterblichkeit bei Menschen mit geringer Bildung öffnete sich jedoch die Schere zwischen Gruppen mit hohem und niedrigem Bildungsgrad hinsichtlich ihrer durchschnittlichen Lebenserwartung weiter. Die wachsende Ungleichheit reicht von dem sehr niedrigen Wert von 0,3 Jahren für Frauen in der Tschechischen Republik bis zu dem sehr hohen Wert von 2,4 Jahren für Frauen in Schweden.

Während der neunziger Jahre erlebten Russland, Estland und Litauen eine negative Entwicklung bei der durchschnittlichen Lebenserwartung, die mit einer dramatischen Zunahme von Ungleichheiten hinsichtlich des Bildungsgrades in der Bevölkerung einherging. In diesen drei Ländern nahm die Lebenserwartung bei Gruppen mit hohem Bildungsgrad zu, während bei Menschen mit mittlerer und geringer Bildung ein auffälliger Rückgang der Lebenserwartung festzustellen war. Am Ende des Beobachtungszeitraums erreichten diese Unterschiede in der Lebenserwartung von Männern in Gruppen mit hoher beziehungsweise geringer Bildung Höchstwerte, die von 11 Jahren in Litauen bis zu etwa 13 Jahren in Estland und Russland reichten. Der entsprechende Anstieg der Unterschiede in der Lebenserwartung bei Frauen war sogar noch auffallender. Die Differenz zwischen Gruppen mit hohem beziehungsweise geringerem Bildungsgrad stieg von 3 auf 9 Jahre in Estland, von 3 auf 7 Jahre in Litauen und von 6 auf 10 Jahre in Russland.

Die Bedeutung verbesserter Bildungsstrukturen

Abbildung 2 zeigt, dass sich in allen sechs untersuchten Staaten der durchschnittliche Bildungsgrad positiv entwickelt hat. Der Anteil von Menschen mit hohem und mittlerem Bildungsgrad stieg an, während der Anteil jener mit geringerem Bildungsgrad sank. Die bemerkenswertesten Veränderungen fanden in Litauen, Estland und Russland statt; sie waren in den meisten Fällen mit dem Aufstieg von einer Gruppe mit geringerem Bildungsgrad in eine Gruppe mit mittlerem Bildungsgrad verbunden. Der dadurch bedingte Zuwachs des Anteils von Menschen mit mittlerem Bildungsgrad war stärker ausgeprägt bei Männern und variierte von 11 bis 12 Prozent für Estland und Russland bis zu 17 Prozent für Litauen. Erheblich geringer (3 Prozent) fiel diese Anhebung des Bildungsniveaus in der Tschechischen Republik aus. Der Anteil von Menschen mit hohem Bildungsgrad stieg in allen untersuchten Ländern an: Der stärkste Zuwachs ist in Schweden beobachtbar, während die übrigen Länder nur relativ bescheidene Steigerungen dieser Bildungsgruppe verzeichneten.

Wie beeinflusst der beschriebene Wandel in den Bildungsstrukturen die Trends in der durchschnittlichen Lebenserwartung? Durch die Dekompositionsmethode wurde es möglich, zwei Komponenten der Veränderung der durchschnittlichen Lebenserwartung zu erfassen: den Effekt der Veränderungen der Mortalität in den drei Bildungsgruppen (M-Effekt) und den Effekt von Veränderungen in der Bildungsstruktur der Bevölkerung (P-Effekt) [4].

Zu der positiven Veränderung der durchschnittlichen Lebenserwartung der Bevölkerung in Finnland und der Tschechischen Republik trug am stärksten der Rückgang der Sterblichkeit in der Gruppe mit geringem Bildungsgrad bei (M-Effekt, Abb. 3). Noch entscheidender war die Bildungsstruktur im Falle Schwedens, wo sich die Zunahme der allgemeinen Lebenserwartung zu etwa 40 bis 70 Prozent durch die Bevölkerungszusammensetzung (P-Effekt) erklären lässt. Insbesondere in Estland, Litauen und Russland war die partielle Anhebung des Bildungsniveaus ein wichtiger Faktor, der dem im Allgemeinen rückläufigen Trend bei der Lebenserwartung entgegenwirkte. In diesen Ländern wurde der Rückgang der Lebenserwartung beinahe ausschließlich durch die ansteigende Sterblichkeit in mittleren und unteren Bildungsschichten hervorgerufen. In allen drei Ländern glich jedoch die veränderte Bildungsstruktur der Bevölkerung wesentlich den negativen Beitrag der eben genannten Gruppen aus. Bei Männern variierten die P-Effekte von +0,8 Jahren in Russland bis +1,2 Jahre in Litauen, während die entsprechenden Werte für Frauen bei +0,7 bis +0,8 Jahren lagen. Diese Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass im Fall eines geringeren Zuwachses an Bildung die Abnahme der Lebenserwartung in diesen Ländern noch gravierender ausgefallen wäre. Zusätzlich zu den positiven Effekten der Bevölkerungszusammensetzung konnten estnische Männer und Frauen und litauische Frauen von der Verbesserung der Lebenserwartung in der Gruppe mit hohem Bildungsniveau profitieren.

Bildung erhöht die Lebenserwartung

Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen die Vermutung, dass Bildung ein wichtiger Bestimmungsfaktor von Sterblichkeit ist. Ein höherer Bildungsgrad kann auf vielerlei Weise wirksam werden. Er geht meist mit einem höheren Einkommen, einem gesünderen Lebensstil, einem geringeren Unfallrisiko und einer sichereren Lebensumwelt einher. Für die durchschnittliche Lebenserwartung scheint die Veränderung in der Bevölkerungszusammensetzung nach Bildungsstand bedeutsam zu sein. Die Untersuchungen weisen nach, dass sich durch Verbesserungen in der Bildungsstruktur der Bevölkerung in Estland, Litauen und Russland die negativen Auswirkungen der ansteigenden Mortalität in den untersten Bildungsschichten verringerten. Die Ergebnisse der Analysen weisen auf eine ungünstige Sterblichkeitsprognose oder sogar rückläufige Lebenserwartung bei den benachteiligten Gruppen hin, das heißt denjenigen mit dem geringsten Bildungsgrad in diesen Ländern. Diese Situation steht in starkem Kontrast zu den kontinuierlichen Verbesserungen der Lebenserwartung in allen Bildungsschichten in der Tschechischen Republik, in Finnland und in Schweden.

Um die negativen Trends in der durchschnittlichen Lebenserwartung umzukehren, sind in den Staaten der früheren Sowjetunion insbesondere Investitionen in das Bildungssystem, eine größere Verteilungsgerechtigkeit in der Gesundheitspolitik und eine Stärkung der sozialen Sicherheit notwendig. Diese sollten vor allem die sozial benachteiligten Gruppen erreichen.

Originalveröffentlichungen

M. Whitehead:
Inequalities in health: The Black Report and the health divide.
Harmondsworth, Penguin (1992).
V. Shkolnikov, D. Leon, S. Adamets et al.:
Educational level and adult mortality in Russia: an analysis of routine data 1979 to 1994.
Social Science and Medicine 47, 357–369 (1998).
V. Shkolnikov, E.M. Andreev, D. Jasilionis, M. Leinsalu, O. Antonova, M. McKee:
The changing relation between education and life expectancy in central and eastern Europe in the 1990s.
Journal of Epidemiology and Community Health 60, 875-881 (2006).
E.M. Andreev, V. Shkolnikov, A.Z. Begun:
Algorithm for decomposition of differences between aggregate demographic measures and its application to life expectancies, healthy life expectancies, parity-progression ratios and total fertility rates.
Demographic Research 7(14), 499-522. http://www.demographicresearch.org
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