Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme

Vielteilcheneffekte in mesoskopischen Systemen

Autoren
Hentschel, Martina
Abteilungen

Vielteilcheneffekte in mesoskopischen Systemen (Noether-Gruppe) (Dr. Martina Hentschel)
MPI für Physik komplexer Systeme, Dresden

Zusammenfassung
Kleine Systeme mit Ausdehnungen unterhalb eines Zehntel Millimeters verhalten sich anders als Metalle. Dies lässt sich anhand der Signaturen von Vielteilcheneffekten studieren. So reagieren Elektronen in solchen, auch experimentell zugänglichen, mesoskopischen Systemen qualitativ anders auf eine plötzliche Störung als Leitungselektronen in Metallen. Das führt im Signal der Röntgenabsorption zu charakteristischen Abweichungen vom wohlverstandenen metallischen Fall.

Von Metallen zu Nanoteilchen

Die Zahl der Elektronen in einem Stück Metall, sei es eine präparierte hochreine Probe oder eine Büroklammer, ist von der Größenordnung der Avogadro-Konstanten, also 1023. In den letzten 20 Jahren ist es möglich geworden, metallische Nanoteilchen mit weniger als 10000 Atomen zu präparieren und zu untersuchen. In einer anderen Systemklasse, den Quantenpunkten (das sind in Halbleiterheteromaterialien gezielt geformte Strukturen, gewissermaßen „Schüsseln“ für Elektronen), kann man die Elektronenzahl sogar bis auf einige Hundert oder auch weniger als ein Dutzend reduzieren. Quantenpunkte und Nanoteilchen sind zwei typische Beispiele für mesoskopische Systeme. Gemein ist ihnen eine Ausdehnung im Bereich unterhalb eines Zehntel Millimeters bis hinein in den Nanometerbereich. Damit fallen sie zwischen die mikroskopische, quantenmechanisch zu beschreibende Welt der Atome und unsere makroskopische, klassischen Gesetzen folgende Alltagswelt.

Doch neben dem Aspekt des in der Mitte (griechisch méssi) Stehens meint der Begriff noch mehr: In hochreinen mesoskopischen Proben werden Quanteneffekte sichtbar und wichtig, was bei ihrer noch recht gut vorstellbaren Größe zunächst überraschen mag. So ist es unabdingbar, den Wellencharakter der Elektronen und die daraus resultierenden Interferenzeffekte zu berücksichtigen. In ballistischen Proben werden diese aber auch von der Begrenzung des Systems abhängen – die Eigenschaften der Elektronen werden von der Geometrie des Systems mitbestimmt. Das ist tatsächlich im Experiment beobachtet worden. Bemerkenswerterweise ist für das Verhalten des quantenmechanischen Systems die Dynamik des klassischen Analogons wichtig: Entscheidend ist, ob das System eine einfache, reguläre Form (wie kreisrund oder rechteckig) besitzt oder komplizierter begrenzt ist (durch einen deformierten Kreis), genauer gesagt, ob die zugrunde liegende klassische Dynamik regulär oder chaotisch ist. Die sich daraus ergebenden Fragestellungen fallen in das Gebiet des Quantenchaos’ und werden in der Arbeitsgruppe in einem zweiten Themenschwerpunkt speziell für optische Mikroresonatoren, also Billards für Licht, untersucht.

Vielteilcheneffekte

Vielteilchenphänomene wie Kondo-Effekt oder Supraleitung haben von jeher nicht nur das Interesse der Physiker geweckt, sondern immer auch die Entwicklung neuer Theorien und Einsichten maßgeblich vorangebracht. Kennzeichnend ist das kollektive Agieren von Teilchen; ein einfaches Einteilchenbild reicht zur Erklärung der Beobachtungen nicht aus. In der Arbeitsgruppe werden insbesondere die Vielteilcheneffekte untersucht, die zu so genannten Fermikantensingularitäten in der Absorption von Röntgenstrahlen führen, nämlich Andersons Orthogonalitätskatastrophe und die Mahan-Nozières-DeDominicis-Antwort [1].

Wenn sich Elektronen in einem Quantenpunkt nun ganz anders verhalten als Elektronen in einem Nagel, werden dann Vielteilcheneffekte in mesoskopischen Systemen genauso ablaufen wie in Metallproben von makroskopischer Dimension im Millimeterbereich? Wird die Geometrie des Systems entscheidend sein? Ist es wichtig, wie viele Teilchen genau beteiligt sind – oder wird sich herausstellen, dass schon 100 oder 1000 Elektronen viele Teilchen sind, also auf eine Störung des Systems ganz genau so reagieren wie 1023 Elektronen? Ungeachtet mancher Gemeinsamkeiten ist die Antwort hier ein klares Nein.

1000 Elektronen sind noch lange nicht „viele Teilchen“

Dass 1000 Teilchen zwar recht viel klingen, sich aber qualitativ völlig anders verhalten als die typischerweise 1023 Teilchen in einem Festkörper, ist in Abbildung 1 am Beispiel von Andersons Orthogonalitätskatastrophe gezeigt. Bringt man in ein makroskopisches System eine plötzliche Störung ein, dann sind der ungestörte und gestörte Grundzustand des Vielteilchensystems so verschieden, dass ihr Überlappintegral verschwindet – das heißt aber, dass das System nicht in den neuen Grundzustand übergehen kann. Diese (theoretische!) Katastrophe wurde 1967 von dem amerikanischen Physiker P. W. Anderson beschrieben.

Anders die Situation in mesoskopischen Systemen [2] (obere Diagramme in Abb. 1): Hier dominieren endliche Werte für den Anderson-Überlapp, der für ansonsten gleiche Parameter um so kleiner ist, je größer das System gemacht wird. Für ein Metall mit 1023 Elektronen ergäbe sich dagegen eine (fast) uniform dunkelblaue Fläche. Die Ursache für den im mesoskopischen Fall auch für beachtliche Elektronenzahlen von einigen Tausend nicht verschwindenden Anderson-Überlapp liegt in einer für Vielteilcheneffekte charakteristischen algebraischen Abhängigkeit: Der Überlapp ist mit der Teilchenzahl über ein Potenzgesetz (Teilchenzahl hoch negativer Exponent) verbunden, anstatt über ein Exponentialgesetz.

Fluktuationen als Markenzeichen

Streng genommen sind die Werte für den Anderson-Überlapp in Abbildung 1 oben als Mittelwerte aufzufassen. Denn ein weiteres Charakteristikum mesoskopischer Systeme sind Fluktuationen (untere Diagramme): Kein System ist wie das andere. Kleine Unterschiede in der Systembegrenzung, minimale Unzulänglichkeiten im Fertigungsprozess oder eine etwas andere Anordnung von Störstellen haben dramatischen Einfluss auf die Interferenzeffekte und machen jeden Quantenpunkt, jedes Nanoteilchen zum Unikat. Dennoch verhalten sich alle Proben in einem Ensemble in etwa gleich, sodass man sie statistisch durch die Angabe des Mittelwertes und die Charakterisierung der Fluktuationen beschreiben kann. Hier spielt wie bereits erwähnt die Geometrie des Systems eine entscheidende Rolle: Die Statistik für Teilchen in einem kreisrunden System ist anders als für in einem Rechteck gefangene Elektronen. Deformiert man jedoch Kreis und Rechteck zu einem chaotischen System, ist der geometrische Unterschied nicht mehr in der Statistik sichtbar: Chaotische Systeme verhalten sich universell, und anders als reguläre Systeme.

Photoabsorptionsspektren: Von abgerundeter zu überhöhter Kante

Röntgenstrahlung kann von Metallen absorbiert werden, indem ein kernnahes Elektron angeregt und in das Leitungsband gehoben wird. Für das Verständnis der Röntgenabsorption reicht das naive Einteilchenbild nicht aus: Denn anstelle des wohldefinierten Einsetzens der Photoabsorption an der so genannten Fermikante beobachtet man entweder ein unterdrücktes oder ein überhöhtes Signal – man spricht von Fermikantensingularitäten. Diese sind Ausdruck der komplexen Gesamtantwort aller Leitungselektronen auf die plötzliche Störung, die durch das Herausschlagen des kernnahen Elektrons erzeugt wird. Die Leitungselektronen folgen der Coulombanziehung durch das zurückbleibende Loch und werden ihre Energieniveaus und Wellenfunktionen etwas neu justieren – und Andersons Orthogonalitätskatastrophe bewirkt eine Unterdrückung der Photoabsorption. Unter bestimmten Voraussetzungen (bei Erfüllen der Dipolauswahlregeln) reagiert das System außerdem auf das im Leitungsband neu hinzugekommene Elektron, und die resultierende Mahan-Nozières-DeDominicis-Antwort überhöht den Absorptionsstreuquerschnitt. Erst die korrekte (und nicht ganz einfache!) Beschreibung beider Prozesse liefert Übereinstimmung mit den experimentellen Ergebnissen. Für Metalle ist dieses Problem vollständig verstanden und als Röntgenkantenproblem bekannt [1].

In Abbildung 2 ist nun die Photoabsorption für Metalle und ein chaotisches mesoskopisches System verglichen [3]. Im metallischen Fall bestimmt im allgemeinen Fall die Symmetrie des kernnahen Elektrons (s- bzw. p-Symmetrie an der K- bzw. L-Kante), ob die Dipolauswahlregeln erfüllt sind und damit die Art der Singularität an der Fermikante: Typischerweise ist die K-Kante abgerundet und die L-Kante überhöht, siehe Abbildung 2. Das gilt aber nicht mehr im mesoskopischen Fall: In ballistischen Quantenpunkten oder Nanoteilchen mit chaotisch-kohärenter Elektronendynamik ist die K-Kante leicht überhöht! Die Ursache dafür ist letztendlich das hier auch an der K-Kante nicht verschwindende Dipolmatrixelement. Damit wird sich aber bei einer Verkleinerung des Systems die abgerundete K-Kante einer metallischen Probe zu einer überhöhten Signatur entwickeln, sobald das mesoskopische Regime erreicht ist. Der sich ausbildende Kohärenzpeak ist ein Indiz für die kohärente Dynamik der Elektronen (das heißt die Wichtigkeit von Interferenzeffekten) in mesoskopischen Systemen. Der Fortschritt auf experimentellem Gebiet sollte die Messung solcher Photoabsorptionsspektren in nicht zu ferner Zukunft erlauben.

Originalveröffentlichungen

Ohtaka, K.; Tanabe, Y.:
Theory of the soft-x-ray edge problem in simple metals: historical survey and recent developments.
Reviews of Modern Physics 62, 929-991 (1990) und Referenzen darin.
Hentschel, M.; Ullmo, D.; Baranger, H. U.:
Fermi edge singularities in the mesoscopic regime: Anderson orthogonality catastrophe.
Physical Review B 72, 035310 (2005).
Hentschel, M.; Ullmo, D.; Baranger, H. U.:
Fermi edge singularities in the mesoscopic x-ray edge problem.
Physical Review Letters 93, 176807 (2004).
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