Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Kollektive Phänomene fern vom thermischen Gleichgewicht

Collective phenomena far from thermal equilibrium

Autoren
Herminghaus, Stephan
Abteilungen

Dynamik komplexer Fluide (Prof. Dr. Stephan Herminghaus)
MPI für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen

Zusammenfassung
Werden viele gleichartige Systeme miteinander gekoppelt, treten oft völlig unerwartete kollektive Phänomene auf. Diese sind wesentlich bei der Entstehung von Strukturen beteiligt, sowohl im Universum als auch auf der Erde. Um diese Mechanismen zu verstehen, werden einfache Modellsysteme untersucht, z.B. feuchte Granulate, wie man sie von der Sandburg am Strand kennt. Wir finden eine Reihe interessanter Ähnlichkeiten mit gut verstandenen Gleichgewichtssystemen, was einen vielversprechenden Weg zur tieferen Erforschung dieses interessanten Gebietes weist.
Summary
If many similar systems are coupled to each other, quite unexpected collective phenomena are sometimes observed. These are important in processes of pattern formation and emergence, as found in the universe as well as ubiquitously on earth. In order to understand these mechanisms, we study simple model systems, such as wet granular matter. A number of interesting similarities is found with well-understood equilibrium systems. This suggests a promising path for in-depth investigation of this lively field of research.

Strukturbildungsphänomene, wie die Entstehung von Sternen und Planeten aus kosmischem Staub oder die Entstehung von Leben aus der Ursuppe, sind generell nur möglich in Systemen wie dem sich ausdehnenden Universum oder der von der Sonne kontinuierlich bestrahlten Erde, die sich also fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht befinden. Täten sie dies nicht, würde sich, gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, alle Struktur ausgleichen; ein ,langweiliger’ Zustand ohne Struktur und Dynamik würde entstehen. Das System würde das Minimum der sog. Freien Energie aufsuchen und sich dort zufrieden niederlassen. Für die Entstehung gar von Leben wäre kein Raum.

Prozesse spontaner Strukturbildung können wir an Modellsystemen beobachten, wie etwa dem von unten erwärmten Öl in der Pfanne, das ein periodisches (meist hexagonales) Konvektionsmuster wie von selbst entstehen lässt. Es ist eine der großen offenen Fragen der Physik, ob ein grundlegendes Prinzip existiert, nach dem Systeme fern vom thermischen Gleichgewicht ihre stationären Zustände finden (wie etwa das zeitlich konstante Konvektionsmuster in der Ölschicht), so wie eben Gleichgewichtssysteme das Minimum der Freien Energie suchen. Ein besonderes Charakteristikum solcher stationären Zustände besteht darin, dass sie noch Dynamik in Form von dauerhaft fließenden Strömen enthalten, die ihre Energie aus der äußeren Einstrahlung erhalten (Sonne, Herdplatte etc.). Demgegenüber ist ein thermodynamisches Gleichgewicht stets stromfrei: man spricht hier von ,Detaillierter Bilanz’, die im Gleichgewichtssystem immer gilt, in Systemen fern vom Gleichgewicht jedoch verletzt ist.

Ein anschauliches Beispiel für ein System fern vom thermischen Gleichgewicht ist die ,La Ola’ im Fußballstadion (Abb. 1). Die ganze Tribüne ist besetzt mit begeisterten Fans, die es kaum auf den Stühlen hält (sensitiver Zustand). Wenn nun eine Gruppe spontan aufsteht (aktiver Zustand), machen das alle unmittelbaren Nachbarn mit, und dann wiederum deren Nachbarn usw., sodass sich die Front über die ganze Tribüne ausbreiten kann. Da aber niemand gerne lange steht, setzen sich die ersten bald wieder hin. Sie werden auch für ein paar Minuten nicht schon wieder aufstehen wollen (Refraktärzustand). Auf diese Weise entsteht eine einzelne Welle (La Ola), die wie ein Tsunami durch die Zuschauerschaft läuft. Auch hier kann man fragen, ob sich die Form und Dynamik der ,La Ola’ Welle aus noch zu findenden, grundlegenden Prinzipien vorhersagen lässt.

Betrachten wir den einzelnen Zuschauer etwas genauer: vom sensitiven Zustand geht er über in den aktiven, von diesem in den Refraktärzustand, und von dort irgendwann wieder zurück in den sensitiven Zustand. Es ist klar, dass diese Reihenfolge nicht umgedreht werden kann: gewissermaßen wird mit jedem einzelnen Zuschauer eine Art ,Kreisstrom’ verbunden sein, der zwischen diesen drei Zuständen in einer Richtung fließen kann, aber nicht in der umgekehrten. Das bedeutet, dass der Zuschauer als Teilsystem die Detaillierte Bilanz bricht; man sagt, in dem System der vielen gekoppelten Zuschauer ist die Detaillierte Bilanz mikroskopisch (d.h. in jedem der Untersysteme, also der Zuschauer) gebrochen. Man kann also nicht hoffen, die konventionelle statistische Physik zu verwenden, um Zustände wie die La Ola korrekt zu beschreiben.

Man kann sich diesem Problemfeld nun auf mehreren Wegen nähern. Einerseits kann man auf rein theoretischem Wege versuchen, das zu untersuchende System so zu transformieren, dass man die Detaillierte Bilanz wiederbekommt. Interessanterweise geht das tatsächlich, wie wir erst vor kurzem herausgefunden haben. Die Entwicklung eines vollständigen Formalismus zur Beschreibung von Systemen fern vom Gleichgewicht auf der Basis dieser Entdeckung ist allerdings, sofern sie denn gelingt, sicher noch ein langer Weg.

Man kann aber auch nach leichter zugänglichen Modellsystemen Ausschau halten, die sich experimentell und simulativ gut erschließen lassen. Ein Beispiel sind feuchte Granulate, wie sie beispielsweise in einer Sandburg auftreten. Der feuchte Sand erhält seine Steifigkeit durch die kleinen flüssigen Kapillarbrücken, die sich zwischen jeweils benachbarten Körnern ausbilden. Jede einzelne solche Brücke bildet sich, wenn sich die Körner berühren, bleibt aber bestehen, wenn diese sich wieder voneinander entfernen. Erst bei einem gewissen kritischen Abstand reißt die Brücke wieder ab. Auch hier haben wir eine Abfolge von Zuständen des Kornzwischenraums (Kontakt oder nicht, Brücke oder nicht), die nur in einer Richtung durchlaufen werden kann. So wie wir oben die Zuschauer im Stadion als gekoppelte Systeme mit jeweils gebrochener Detaillierter Bilanz angesehen haben, haben wir im feuchten Granulat viele gekoppelte Kornzwischenräume vorliegen, die ebenfalls einzeln die Detaillierte Bilanz brechen. Ihre konzertierte Wirkung ist enorm: sie unterscheidet den trockenen Sand der Wüste von dem duktilen Material am Strand, aus dem sich Sandburgen bauen lassen, und dessen kapriziöse Dynamik sich hin und wieder z. B. in Form von Erdrutschen bemerkbar macht.

Da es letzten Endes um mögliche Analogien zwischen den Gleichgewichtssystemen der herkömmlichen statistische Physik und Systemen fern vom Gleichgewicht geht, wie etwa der La Ola oder dem feuchten Granulat, bietet es sich an, bekannte Phänomene wie etwa Phasenübergänge z.B. in feuchten Granulaten zu suchen. Die ,Temperatur’ in einem feuchten Granulat kann man etwa dadurch festlegen, dass man ein Modell-Granulat (gerne nimmt man Schüttungen kleiner Glaskugeln, die man mit etwas Wasser benetzt) in eine Petrischale gibt und diese in vertikale Vibration versetzt (z.B. indem man sie auf der Membran eines liegenden Lautsprechers montiert). Dreht man nun die ,Lautstärke’ dieser Vibration auf, so findet bei einer kritischen Amplitude eine Fluidisierung statt: In dem Granulat, bei dem eben noch jedes Korn unverrückbar am Platz blieb, setzt eine Fließbewegung ein. Hier findet offenbar eine Art Übergang zum Schmelzen statt.

Bei stärkerer Vibration kann man ein ganz anderes Szenarium beobachten. Plötzlich entsteht aus der fluidisierten Phase heraus eine Gasblase, die zu einer gewissen Größe anwächst und dann konstant stehen bleibt: eine flüssig/gas-Koexistenz ist eingetreten (Abb. 2). Allerdings stellt sich heraus, dass die Temperatur (d.h. die mittlere kinetische Energie der Glaskugeln) im Gas um rund einen Faktor hundert höher ist als in der Flüssigkeit! Damit ist klar, dass es sich um ein genuines Nicht-gleichgewichtsphänomen handelt, das mit der in Gleichgewichtssystemen beobachteten flüssig/gas-Koexistenz nicht viel gemein hat.

Es ist sehr instruktiv, das Phasendiagramm in den Koordinaten der (über die Wände der Petrischale) eingestrahlten Energie als Abszisse und der vertikalen Beschleunigung als Ordinate aufzutragen. Man sieht sehr deutlich, dass die Phasengrenzen entweder etwa horizontal verlaufen (Begrenzung der festen Phase nach ,oben’), oder etwa vertikal (Begrenzung der flüssigen Phase nach ,rechts’). Im ersten Fall wird also der Phasenübergang durch die angelegte Beschleunigung, d.h. durch Kraft getrieben. Im letzteren dagegen durch die eingestrahlte Energie. In der Tat findet der Übergang von der flüssigen Phase in die flüssig/gas-Koexistenz etwa dann statt, wenn die eingestrahlte Energie pro Teilchen in etwa der zum Bruch einer Kapillarbrücke aufzuwendenden Energie ist (etwa 15 nJ in diesem Experiment).

Es ist ferner instruktiv, eine Simulation durch zuführen, um zu sehen, wie genau man die Eigenschaften der Kapillarbrücken modellieren muss, um das gemessene Phasendiagramm zu reproduzieren. Dazu haben wir vereinfachend angenommen, dass die von der Kapillarbrücke aufgrund der Oberflächenspannung des Wassers ausgeübte Kraft unabhängig vom Abstand der Körner ist solange die Brücke existiert. Wie man sieht, ist das simulierte Phasendiagramm dem experimentellen qualitativ sehr ähnlich, obwohl die Näherung sehr grob ist (Abb. 3). Wenn man die Tatsache, dass die Simulation aufgrund der begrenzten Rechnerkapazität nur in zwei Dimensionen durchgeführt wurde, angemessen berücksichtigt, wird sogar eine quantitative Übereinstimmung daraus.

Angesichts der starken Vereinfachungen, die in die Simulation eingeflossen sind, ist das erstaunlich: Nicht nur der Kraftverlauf wurde stark vereinfacht, auch Beiträge wie Reibung, Viskosität der Flüssigkeit, Rotationsfreiheitsgrade der Kugeln wurden nicht berücksichtigt. Wir haben deswegen das Wechselwirkungspotenzial noch einmal stark modifiziert: statt dem die konstante Kraft abbildenden Dreieckspotenzial verwendeten wir ein Recheckpotenzial. Lediglich die zum Brückenbruch notwendige Energie und der Abreissabstand wurden beibehalten. Tatsächlich sind dies offenbar die einzigen relevanten Parameter des Systems: die mit den beiden Potenzialen gerechneten Phasendiagramme sich bis in Details identisch! Es liegt hier also eine hochinteressante Universalität vor, die es sich lohnt noch weiter zu untersuchen: denn Universalität bedeutet, dass wir allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten auf der Spur sind - und was könnte uns Physiker mehr begeistern?

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