Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Proteinmechanik - von Kraftsensoren zu strapazierfähigen

Autoren
Gräter, Frauke
Abteilungen

Protein Mechanik und Evolution (Dr. Frauke Gräter)
MPI für Metallforschung, Stuttgart

Zusammenfassung
Lebende Organismen reagieren auf mechanische Kraft mithilfe ausgeklügelter Mechanismen, Proteine spielen hierbei die Hauptrolle. Was sind die Prinzipien, die es Proteinen und biologischen Materialien erlauben, auf mechanische Kräfte zu reagieren? Die Natur entwickelte Lösungen für verschiedenste Bedingungen, wie solche in angespannten Muskelfasern, im Blutstrom oder in Seidenfasern unter Spannung. Neue, auf hoch-performanten Simulationstechniken basierende Ansätze helfen, Kraft tragende Strukturelemente in komplexen biologischen Materialien zu identifizieren und gezielt zu modifizieren.

Mechanische Kräfte in der Biologie

Die Erforschung zellulärer Vorgänge war über Jahrzehnte auf biochemische Ereignisse fokussiert. Dass das Schicksal einer Zelle als biochemischer Reaktor auch eng an die Mechanik der Zelle und ihrer Umgebung gekoppelt ist, wird erst in den letzten Jahren zunehmend erkannt [1]. Kraft zeigt sich als essentielles mechanisches Signal, das über Zellteilung, Zelldifferenzierung oder Zelltod entscheiden kann. Biologische Systeme reagieren auf mechanische Kraft mit ausgeklügelten Mechanismen, bei denen Proteine als Kraftsensoren und Kraftvermittler eine entscheidende Rolle spielen.

Kraft ist eine altbekannte physikalische Größe. Eine mechanische Zugkraft lässt sich unter anderem mit einer einfachen Feder messen: Nach dem Hooke'schen Gesetz ist die Ausdehnung einer geeigneten Feder, x, proportional zu der ausgeübten Kraft F: F=kx, wobei k die Federkonstante, also die Steifheit der Feder, ist.

Ein Protein ist weitaus komplexer als eine einfache Feder. Es besteht aus Tausenden von Atomen, die über Kräfte miteinander wechselwirken, die nicht dem Hooke'schen Gesetz gehorchen. Je nach der molekularen Struktur kann ein Protein ein weiches, verformbares Molekül sein, ein hartes, brüchiges Material mit hohen Reißkräften, oder eine Kombination dieser Extreme. Die Reaktion auf die äußere mechanische Scher- oder Ziehkraft hängt außerdem von Umgebungsfaktoren sowie der Richtung und Art der Krafteinwirkung ab.

Kraftverteilungsanalyse in Proteinen unter Spannung

Proteine, die als Kraftsensoren oder Stress-Absorber wirken, müssen eine gewünschte Verformung oder biochemische Reaktion als Antwort auf eine einwirkende Kraft erzielen. Um dies zu ermöglichen, wurde das Netzwerk von atomaren Wechselwirkungen in solchen Proteinen über Millionen von Jahren durch die Evolution optimiert. Das Ergebnis ist eine präzise Weiterleitung der äußeren Kraft durch die nur Nanometer-große Struktur des Proteins hindurch.

Will man das Design der krafttragenden und kraftfühlenden Proteinstrukturen lebender Organismen verstehen und nachahmen, so ist ein detailliertes Bild der Kraftverteilung in den beteiligten Proteinen eine erste Voraussetzung. Für makroskopische Objekte, d.h. im Bereich von Zentimetern bis Metern, stehen ausgereifte Computersimulationstechniken zur Verfügung, die helfen, die mechanische Belastbarkeit einer Struktur vorherzusagen und so das Design von Autos, Hochhäusern oder Brücken unterstützen (Abb. 1a). Diese Techniken basieren größtenteils auf Finite-Elemente-Methoden und benutzen Modelle der Kontinuumsmechanik.

Ist Ähnliches auf der Nanometer-Skala von Biomolekülen möglich? Im Unterschied zu makroskopischen „bulk“ Materialien spielt hier die genaue Struktur auf atomarer Ebene und das resultierende Netzwerk der atomaren Wechselwirkungen eine entscheidende Rolle. Eine Standard-Methode zur Berechnung der Bewegung von Atomen oder ganzen Proteinen in der Zeit sind Molekulardynamik (MD)-Simulationen. Unter anderem werden in solchen Simulationen die interatomaren Kräfte in einem Protein berechnet. Eine neue Methode, basierend auf MD, macht sich nun diese Kräfte zunutze, um die Verteilung einer außen angelegten Spannung in einem komplexen Molekül aufzuspüren [2, 3]. Die Kraftverteilungsanalyse (Force Distribution Analysis, FDA) ist in dem weit verbreiteten MD-Simulationspaket Gromacs [4] implementiert worden.

Die Idee ist einfach und in Abbildung 2 schematisch gezeigt: Es werden die paarweisen atomaren Kräfte eines Proteins oder eines anderen Makromoleküls, das einer konstanten äußeren Zugspannung ausgesetzt ist, über die Zeit gemittelt. Davon werden die entsprechenden gemittelten Kräfte der gleichen Struktur im entspannten Zustand abgezogen, um nur den Effekt der von außen wirkenden Kraft ohne die eventuell vorhandene Vorspannung im Molekülgerüst zu detektieren. Unterschiede in den Kräften können dann auf eine Proteinstruktur projiziert werden, zum Beispiel in Form eines Graphen, dessen Kanten besonders krafttragende Wechselwirkungen sind (Abb. 3a), oder als Struktur mit einer farblichen Codierung, die der Spannung je Atom oder Residuum entspricht (Abb. 3b).

Ein entscheidender Vorteil der Beobachtung der molekularen Kräfte anstatt der Proteinstruktur selbst ist die Sensitivität. Steife Bereiche in komplexen Materialien nehmen zwar typischerweise hohe Kräfte auf und tragen dadurch entscheidend zur Stabilität bei, zeigen aber definitionsgemäß nur geringfügige Verformungen.

Seidenfasern und Blutgerinnung

Erste Anwendungen konnten bereits die Nützlichkeit der FDA für biologische Fragestellungen demonstrieren. So zeigen die kristallinen Bausteine in den Protein-basierten Fasern von Spinnenseide unter Spannung eine sehr effektive und äußerst homogene Verteilung der Kraft [5]. Dadurch können Seidenkristalle Kräfte von einigen Nanonewton (ein Milliardstel Newton) aufnehmen und übertreffen darin sogar die Immunoglobulin-Domänen von Titin in Muskelfasern, die zu den mechanisch stabilsten Proteinen gehören, die man heutzutage kennt.

Die Kraftverteilungsanalyse der Seidenkristalle zeigt außerdem, dass Wasserstoffbrücken und die dichte Packung von nicht-polaren Seitenketten in etwa gleichermaßen zur Kraftverteilung beitragen. Die periodische Anordnung erlaubt eine effektive Ablenkung der Kraft in alle Richtungen senkrecht zu der außen angelegten Spannung (Abb. 1b). Dies resultiert in einer sehr homogenen Verteilung der Spannung in der Struktur.

In anderem physiologischen Zusammenhang kann es von Vorteil sein, eine äußere mechanische Last auf ein Bindeglied in einer Proteinstruktur zu konzentrieren, um dieses gezielt zu schwächen. Eine zweite Anwendung der FDA auf eine Proteindomäne des Von-Willebrand-Faktors schlägt einen solchen Mechanismus vor [6]. Bündelung der Kraft innerhalb des Proteins setzt eine Peptidbindung im Zentrum des Moleküls unter Spannung (rot in Abb. 1b). Just diese Bindung wird enzymatisch gespalten, um ausufernde Verklumpung von Blut und somit Thrombosen zu verhindern. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Konzentration der Spannung die Spaltstelle mechanisch schwächt, um die Spaltung zu erleichtern. Falls Experimente die Computervorhersagen stützen können, ist die Spaltung des Von-Willebrand-Faktors ein seltenes Beispiel für die direkte Beeinflussung enzymatischer Aktivität durch externe Kräfte.

Die Kraftverteilung durch große und komplexe biologische Strukturen wie Proteine hindurch wirft spannende Fragen auf, die es künftig zu beantworten gilt: Lassen sich die Kraftverteilungen aus Molekulardynamik-Simulationen mit den konventionellen Finite-Elemente-Methoden verknüpfen, um eine Brücke zwischen der Nanometer- und Mikrometer-Skala zu schlagen? Was sind die Zeitskalen, die in der Fortpflanzung von mechanischen Signalen durch kondensierte Materie hindurch eine Rolle spielen und wie hängen sie mit der Schallgeschwindigkeit zusammen? Wie kann die Kraftverteilung in einem rationalen Material-Design eingesetzt werden, um eine verbesserte mechanische Belastbarkeit zu erzielen?

Die Kraftverteilungsmethode verspricht, vielfältige neue Einsichten in die mechanische Funktion von Proteinen zu erlauben. Somit stellt sie einen Schritt vorwärts dar in dem Verständnis, wie sich die Natur die alte Größe Kraft nutzbar macht.

Originalveröffentlichungen

V. Vogel, M. Sheetz:
Local force and geometry sensing regulate cell functions.
Nature Reviews Molecular Cell Biology 7 (4), 265-75 (2006).
W. Stacklies, M.C. Vega, M. Wilmanns, F. Gräter:
Mechanical Network in Titin Immunoglobulin from Force Distribution Analysis.
PLoS Computational Biology 5 (3), e1000306 (2009).
W. Stacklies, F. Xia, F. Gräter:
Dynamic Allostery in the Methionine Repressor revealed by force distribution analysis.
PLoS Computational Biology 5 (11), e1000574 (2009).
D. Van Der Spoel, E. Lindahl, B. Hess, G. Groenhof, A. E. Mark, H. J. C. Berendsen:
GROMACS: Fast, flexible, and free.
Journal of Computational Chemistry 26 (16), 1701-1718 (2005).
S. Xiao, W. Stacklies, M. Cetinkaya, B. Markert, F. Gräter:
Mechanical Response of Silk Crystalline Units from Force Distribution Analysis.
Biophysical Journal 96 (10), 3997-4005 (2009).
C. Baldauf, R. Schneppenheim, W. Stacklies, T. Obser, A. Pieconka, S. Schneppenheim, U. Budde, F. Gräter:
Shear-Induced Unfolding Activates von Willebrand Factor A2 Domain for Proteolysis.
Journal of Thrombosis and Haemostasis 7 (12), 2096-2105 (2009).
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