Forschungsbericht 2008 - Max-Planck-Institut für Physik

Neutrinos und die Suche nach neuer Physik

Autoren
Antusch, Stefan
Abteilungen


MPI für Physik, München

Zusammenfassung
Das Standardmodell der Elementarteilchen beschreibt mit beeindruckender Genauigkeit alle bisher beobachteten Elementarteilcheneigenschaften, mit einer Ausnahme: Neutrinomassen. Neutrinomassen sind der erste klare Hinweis aus der Teilchenphysik darauf, dass das Standardmodell erweitert werden muss. Neutrinooszillationen sind Quantenprozesse, die zur Entdeckung der Neutrinomassen geführt haben. In der Zukunft können sie erneut für überraschende Entdeckungen sorgen: Wie eine Lupe können sie weitere neue Physik sichtbar machen und damit zur Suche nach dem neuen Standardmodell beitragen.

Neutrinomassen und Oszillationen

Die Elementarteilchen im Standardmodell sind in zwei Arten unterteilt: Quarks und Leptonen. Zu den Quarks gehören beispielsweise das Up-Quark und das Down-Quark, die Grundbausteine der Protonen und Neutronen. Zu den Leptonen zählen z. B. das Elektron und sein neutrales Partnerteilchen, das Elektron-Neutrino. Zusätzlich zu diesen Elementarteilchen der so genannten ersten Familie existieren noch zwei weitere, schwerere Familien von Quarks und Leptonen. Bei den Leptonen sind dies das geladene Myon und Tauon, sowie deren elektrisch neutrale Partner, das Myon-Neutrino und das Tauon-Neutrino. Während die Massen der geladenen Leptonen bekannt waren, galten die Neutrinos lange Zeit als masselos.

Der Nachweis der Neutrinomassen gelang durch die Beobachtung von Neutrinooszillationen. Neutrinooszillationen treten auf, wenn zusätzlich zu Neutrinomassen das Phänomen der Teilchenmischung vorliegt. Dieses Phänomen ist bereits von den Quarks bekannt und bedeutet, dass die Neutrinos des Standardmodells, z. B. das Elektron-Neutrino, aus einer Überlagerung von quantenmechanischen Zuständen mit drei Massen bestehen. Werden die Neutrinos mit einer bestimmten Energie an der Neutrino-Quelle erzeugt, dann hat jeder dieser Bestandteile eine andere Geschwindigkeit. Dies führt zu Interferenzen, weil die Bewegung von Quanten als Wellenphänomen zu verstehen ist. Durch diese Interferenzeffekte kann das Neutrino seine Familie verändern, aus einem Elektron-Neutrino wird beispielsweise ein Myon-Neutrino oder ein Tauon-Neutrino. Die Wahrscheinlichkeit mit der eine Familien-Umwandlung zu beobachten ist, die so genannte Oszillationswahrscheinlichkeit, hängt (für eine bestimmte Neutrino-Energie) periodisch von der Entfernung zwischen Quelle und Detektor ab; daher der Name Neutrinooszillationen. Zusätzlich beinhalten die Oszillationswahrscheinlichkeiten Informationen über die Massendifferenzen der Neutrinos sowie über die Teilchenmischungen.

Mittlerweile sind Familien-Umwandlungen von Neutrinos aus verschiedenen Quellen beobachtet worden, z. B. aus der Sonne, aus Nuklearreaktoren, aus Teichenbeschleunigern sowie aus Kollisionen der kosmischen Hintergrundstrahlung mit Teilchen der Erdatmosphäre. All diese Beobachtungen sind konsistent mit der Theorie der Neutrinooszillationen und erfordern winzige Massen der Neutrinos [1].

Präzisionsexperimente mit Neutrinos

Trotz dieser großartigen experimentellen Resultate bleiben noch viele Fragen offen. Beispielsweise sind die Teilchenmischungen der Neutrinos derzeit noch unzureichend bekannt. Eine weitere offene Frage ist, ob eine Verletzung der Symmetrie zwischen Teilchen und Anti-Teilchen (CP-Symmetrie), welche grundsätzlich notwendig ist um den Materieüberschuss im Universums zu erklären, auch im Lepton-Sektor (wie bereits im Quark-Sektor) existiert. Außerdem ist die fundamentale Frage noch unbeantwortet, ob Neutrinos ihre eigenen Anti-Teilchen sind. Diese Frage, ebenso wie die Frage nach den Werten der Neutrinomassen, lässt sich mit Oszillations-Experimenten nicht beantworten, wohl aber mit Betazerfalls-Experimenten, wie z. B. dem GERDA- Experiment oder dem KATRIN-Experiment.

Um die Fragen nach den Teilchenmischungen der Neutrinos und nach der Verletzung der CP-Symmetrie zu beantworten, werden Neutrinooszillations-Experimente mit hoher Präzision in Erwägung gezogen. Ein Beispiel hierfür ist die so gannte Neutrinofabrik, bei der Myonen auf Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden und dann auf einer „Rennstrecke” zerfallen, wobei Neutrinos produziert werden. In den derzeit angedachten Neutrinofabriken könnten 1021 Neutrinos pro Jahr erzeugt werden (eine Eins mit 21 Nullen), was eine Studie von Neutrinooszillationen mit fantastischen Genauigkeiten erlauben würde [2]. Einen möglichen Aufbau einer Neutrinofabrik zeigt Abbilung 1.

Neutrinooszillationen – eine Lupe zu neuer Physik

Das grundlegende Prinzip von Neutrinooszillationen ist, dass durch quantenmechanische Interferenzeffekte auch winzige Parameter, wie z. B. die Neutrinomassen, sichtbar gemacht werden können. Das wirft natürlich die Frage auf, ob zukünftige, äußerst präzise Neutrinooszillations-Experimente das Potenzial haben, weitere neue Physik jenseits der Neutrinomassen zu entdecken. Diese Möglichkeit wurde in den letzten Jahren mit zunehmender Intensität erforscht. Untersuchungen haben ergeben, dass eine Neutrinofabrik in der Lage ist, neue, auf Neutrinos wirkende Kräfte aufzuspüren, selbst wenn diese mehr als einen Faktor 100 schwächer sind als die Kräfte im Standardmodell. Solche Kräfte könnten beispielsweise von neuen Teilchen verursacht werden, die bei der Erzeugung der Neutrinomassen eine Rolle spielen.

Angesichts der hohen Präzision der Experimente ist es erforderlich auch die theoretischen Aspekte der Neutrinooszillationen mit entsprechender Genauigkeit zu behandeln. Eine theoretische Schwierigkeit in Bezug auf Neutrinooszillationen in Gegenwart von neuer Physik besteht darin, dass die Teilchenmischungen der drei Neutrino-Varianten typischerweise nicht mehr durch eine „unitäre” Matrix beschrieben werden. Das bedeutet dann, dass Neutrinos eine Familien-Umwandlung vollziehen können ohne zu oszillieren. Mit einer Neutrinofabrik könnte eine solche Familien-Umwandlung der Neutrinos durch neue Physik mit sehr hoher Genauigkeit nachgewiesen werden. Kürzlich ist es gelungen, eine konsistente Beschreibung von Neutrinooszillationen mit einer allgemeinen, nicht-unitären Mischungsmatrix zu formulieren [4]. Neue Phänomene in Neutrinooszillationen treten sowohl nahe einer Neutrino-Quelle auf, als auch durch Interferenzeffekte zwischen dieser neuen Form der Familien-Umwandlung und den ursprünglichen Neutrinooszillationen sowie bei der Bewegung von Neutrino-Quanten durch Materie. Ein Beispiel für den möglichen Einfluss von neuer Physik auf Neutrinooszillationen ist in Abbildung 2 dargestellt.

Darüber hinaus sind Neutrinos auch hervorragend geeignet, um Verletzungen von fundamentalen Symmetrien, z. B. der CPT-Symmetrie oder der Lorentz-Symmetrie aufzuspüren. Ein besonders interessantes Signal in diesem Zusammenhang wäre, wenn zukünftige Oszillations-Experimente ergäben, dass die Neutrinomassen und Teilchenmischungen für Neutrinos und Anti-Neutrinos unterschiedliche Werte haben. Das würde dann implizieren, dass die grundlegende Theorie der Elementarteilchen nicht-lokal ist, d. h. dass die Kräfte zwischen Elementarteilchen nicht an einem Punkt übertragen werden wie im Standardmodell. Nicht-lokale Wechselwirkungen sind beispielsweise eine Eigenschaft der Stringtheorie, oder allgemeiner von Quantentheorien im Hinblick auf die Einbeziehung der Gravitationskraft. Abbildung 3 zeigt ein Beispiel für die Sensitivität mit der zukünftige Neutrinooszillations-Experimente solche Hinweise auf neue Physik aufspüren könnten [5].

Aber auch andere Erweiterungen des Standardmodells, wie sie möglicherweise am Large Hadron Collider (LHC) entdeckt werden, können unter anderem Auswirkungen auf Neutrinooszillationen haben. Für die Suche nach neuer Physik wird es daher auf jeden Fall wesentlich sein, die experimentellen Daten von Neutrinooszillationen mit den Resultaten des LHC am CERN und von anderen Suchen nach neuer Physik zu kombinieren.

Ausblick

Durch Neutrinooszillationen gelang es, die winzigen Massen der Neutrinos und deren Teilchenmischungen aufzuspüren. Wesentlich an Neutrinooszillationen ist, dass durch quantenmechanische Interferenzeffekte auch sehr kleine Parameter sichtbar gemacht werden können. Zukünftige äußerst präzise Oszillations-Experimente werden dieses Phänomen mit bisher unerreichter Genauigkeit untersuchen. Diese Genauigkeit kann es erlauben, durch Neutrinooszillationen weitere Hinweise auf neue Physik jenseits des Standardmodells der Elementarteilchen zu entdecken. In Kombination mit anderen Suchen nach neuer Physik, insbesondere den Experimenten am LHC, können zukünftige präzise Neutrinooszillations-Experimente dazu beitragen Antworten auf offene Fragen der Elementarteilchenphysik zu geben und letztlich ein neues Standardmodell zu finden. Eines ist gewiss: Neutrinomassen, entdeckt durch Neutrinooszillationen, werden Bestandteil dieses neuen Standardmodells sein.

Originalveröffentlichungen

Particle Data Group (C. Amsler et al.):
2008 Review of Particle Physics: Neutrino mass, mixing, and flavor change.
Physics Letters B 667, 1-6 (2008).
ISS Physics Working Group (A. Bandyopadhyay et al.):
Physics at a future Neutrino Factory and super-beam facility.
e-Print: arXiv:0710.4947.
CERN working group on oscillation physics at the Neutrino Factory (M. Apollonio et al.):
Oscillation physics with a neutrino factory.
CERN Yellow Report on the Neutrino Factory (e-Print: hep-ph/0210192).
S. Antusch, C. Biggio, E. Fernandez-Martinez, M.B. Gavela, J. Lopez-Pavon:
Unitarity of the Leptonic Mixing Matrix.
JHEP 0610 (2006) 084 (e-Print: hep-ph/0607020).
S. Antusch, E. Fernandez-Martinez:
Signals of CPT Violation and Non-Locality in Future Neutrino Oscillation Experiments.
Physics Letters B 665, 190-196 (2008); (e-Print: arXiv:0804.2820).
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